Bernstein

Sie sitzt ihm schräg gegenüber, zwei Tische weiter, genau im Gegenlicht, das durch die trüben Fensterscheiben dringt und das Lokal durchflutet. Winzige, goldene Staubteilchen tanzen im wogenden Dunst des Lokals - und mittendrin nun sitzt sie, und das Licht und der Dunst machen sie für ihn, der sie wiedererkannt hat nach all den Jahren, zu einer schattenhaften, unwirklichen Figur wie aus der Fremdheit des Jenseits.

 

Und daran erinnert er sich: An viel Wind, der beständig vom Meer herüberblies; an den eigenartigen, strengen Geruch des vom Laub der Pappeln, das weich unter den Füßen raschelte; an einen Haufen von wilden, schreienden Kindern, gesichtslose Wesen, die stets in kleinen Horden auftraten und einander quälten; an den dunklen, niedrigen Schlafraum, die ewig klamme Bettwäsche, aus der er beim Einschlafen und Aufwachen einen gerade noch wahrnehmbaren Geruch von modrigem Meereszeug und Urin atmete.

 

Er sieht wieder das Gesicht des kleinen Mädchens in seinem Innern, in jener Dunkelkammer, die nur so zögernd etwas preisgibt: Ein blasses, spitzes Gesicht, schmale Lippen und die winzige Narbe unterhalb eines Mundwinkels. Er sieht vor allem ihre Augen, groß und von einer Farbe, die er sich nie hat erklären können: Ein schwaches Braun war darin und etwas Honigfarbenes, tief und durchsichtig.

 

Es war in den ersten Oktobertagen, damals vor über dreißig Jahren, die Herbststürme hatten mit Wucht gerade begonnen. Heulend wie Tiere verfingen sich die Winde im Reetdach des alten Kinderheims, mit Kratzhieben schlugen die Zweige der Obstbäume gegen die Hauswand - und es stahl sich, wie so oft in diesen Nächten, der Gedanke ins Herz, dass man verlassen und verloren sei und diese grausigen Naturgewalten eben so wenig länger ertragen könne wie das Heimweh. Dieses Gefühl hatten sie beide gemeinsam (das hatten sie sich einmal flüsternd gestanden), ebenso wie die Angst, wenn es polterte, pfiff und toste, als wolle das Meer sich zu Land begeben - eine Angst, die in den Nächten des Sturms leibhaftig wurde und aufrecht in den Betten der beiden Kinder stand wie ein Gespenst.

 

Er saugt mit den Augen das Licht auf. Die rauchige Luft wallt wie ein Schleier. Nur die Konturen der Frau dort sind ausgespart, bleiben im Lichtschatten. Und wieder sieht er die Bilder, fällt zurück in die Zeit, in der sie zusammen waren:

 

Wie sie sich heimlich davonmachten, stundenlang am Flutsaum entlang liefen, um Bernstein zu suchen, stell dir vor, echten Bernstein, der ist so viel wert wie Gold, wie Gold! Und sie lachte und lachte, wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu lachen die ganze Zeit, bis er sagte: Es ist mir unheimlich, komm, lass uns umkehren. Die Schimpftiraden der Betreuer, der Stubenarrest.

 

Das Wetter wurde plötzlich noch einmal sommerlich sie konnten ohne Jacken und mit kurzen Hosen herumlaufen. Die Sonne wärmte wieder ihre Haut, währen sie am Strand spielten, und er bemerkte, wie das Haar seiner Freundin wieder diesen leichten Duft hatte nach Honig und Harz.

 

Er starrt ins Gegenlicht, dorthin, wo die Frau sitzt, heftet seinen Blick auf jenes schattenhafte Wesen wie auf ein Wunder.

 

Den nächsten Tag hat er in dunklen Gewitter umwölkten Bildern vor Augen - obwohl es doch spätsommerlich warm war damals. Sie hatten sich wieder einmal davongestohlen, hatten ihr Badezeug mitgenommen, waren wie verrückt darauf, zu dieser späten Jahreszeit noch einmal ins Wasser zu gehen. Dann hatte sich plötzlich der Himmel zugezogen, etwas Wind war aufgekommen; das Kreischen der Möwen war verstummt, jedenfalls ist ihm die Erinnerung an Geräusche und Farben abhanden gekommen. Sie waren wirklich ins Wasser gegangen. Und dann nur noch dies: Zitternd, mit blauen Lippen stand er bis zu den Knien in den Wellen, die sich ihm entgegen warfen, die Gischt spritzte ihm bis unters Kinn; schlotternd und mit den Zähnen klappernd konnte er einfach nur dastehen, mitten im Wasser und zusehen, wie das Mädchen, seine kleine Freundin, in den schäumenden Strudel zwischen einer Lücke in der Buhne geriet, sich drehte und im Meer versank, so als werde sie geschluckt zwischen der klaffenden Zahnlücke der Seepocken übersäten Holzpfähle, geschluckt wie von einem riesigen, Speichel gefüllten Maul.

 

Und das Meer stürmte gegen ihn an wie zur Verteidigung einer Beute, als sei er der Eindringling, der Fremde, der Feind. Es gab nur diese drei: Ihn, das Meer - und mittendrin das ertrunkene Kind.

 

Und das Meer stob gegen seine dünnen Kinderbeine an, als wolle es sie zerbrechen wie Holz, doch er blieb stehen, blieb stehen, als sei er der einzige feste Punkt auf dieser Welt, und das Meer griff nach dem Sand unter seinen Füßen, spülte ihn an den Seiten fort, doch ein winziges festes Fleckchen konnte er unter seinen Fußsohlen behalten. Und so musste er sich anstrengen, auf diesem dürftigen Grund stehen zu bleiben, nicht zu trudeln, nicht zu stürzen; starrte also immerzu auf jenen krausen Wasserwirbel, der wieder und wieder mit grauer, kalter Wut nach allem griff, was in die Nähe der Lücke zwischen den Pfählen kam.

 

Das Meer hatte ihn nicht zu ihr gelassen aus einem einfachen Grund: Er konnte nicht schwimmen. Nur ein paar Schritte ins Wasser hinein mochte er wagen, bis hin zu den Knien, oder, wenn er mutig war so wie jetzt, bis zum Saum der Badehose. Das Mädchen hatte ihm zeigen wollen, wie man es anstellen musste, das Schwimmen.

 

Je länger er auf das kreisende Wasser in der Lücke dort starrte, auf dieses ungeheuerliche Schlingmaul, auf die Stelle, wo sie versunken war, je länger er so regungslos auf seinem Fleckchen Grund stand, je öfter sein Zittern und Beben ihm immer neue Schauern über die vorstehenden Rippen und den ganzen mageren Körper jagten, je länger er damit beschäftigt war, den Unfassbarkeiten einer grauenhaften, ihm unbekannten Gewalt zu trotzen, um dieser am Ende möglicherweise doch zu erliegen - desto weniger war er in der Lage, das Geschrei und die Rufe, die vom Deich her kamen, überhaupt wahrzunehmen. Seine Sinne waren gefangen. Er hörte nicht mehr das laute Herbeieilen der Anderen aus den Dünen, wie sie, Namen und Kommandos ausstoßend, her gerannt kamen über den glatten Strand, den die Flut verlassen hatte; spürte auch nicht, wie einer ihn gerade noch rechtzeitig auffing, ihm von hinten unter die Achseln griff und seinen schlaffen Körper aus dem Wasser zog; wie seine eigenen Fersen dabei parallele Zeichen in den feuchten Sand zogen, Zeichen, die sofort wie aus Scham von murmelnden kleinen Wellen verwischt wurden, so, als wolle das Meer nicht einmal eine Spur von ihm.

 

Später dann, auf der Heimfahrt im Wagen seiner Eltern, griff er immer wieder in die Taschen seiner Cordhose: Da waren sie noch, die Bernsteine, nach denen sie gemeinsam so lange gesucht hatten. Er bewahrte sie jahrelang auf, auch dann noch, als sich herausstellte, dass es nur Flintsteine waren.

 

Die Frau steht auf. Wie sie ihren Mantel nimmt, kommt sie direkt unter einer Lampe zu stehen. Kein Schatten mehr auf ihrem Gesicht. Kurz treffen sich ihre Blicke, ganz flüchtig nur. Wie im Reflex greift er mit der Rechten in die Hosentasche - und hört von weit, weit her wieder das helle Kinderlachen.

 

(c) Rainer Bendt

Bernstein

Sie sitzt ihm schräg gegenüber, zwei Tische weiter, genau im Gegenlicht, das durch die trüben Fensterscheiben dringt und das Lokal durchflutet. Winzige, goldene Staubteilchen tanzen im wogenden Dunst des Lokals - und mittendrin nun sitzt sie, und das Licht und der Dunst machen sie für ihn, der sie wiedererkannt hat nach all den Jahren, zu einer schattenhaften, unwirklichen Figur wie aus der Fremdheit des Jenseits.

 

Und daran erinnert er sich: An viel Wind, der beständig vom Meer herüberblies; an den eigenartigen, strengen Geruch des vom Laub der Pappeln, das weich unter den Füßen raschelte; an einen Haufen von wilden, schreienden Kindern, gesichtslose Wesen, die stets in kleinen Horden auftraten und einander quälten; an den dunklen, niedrigen Schlafraum, die ewig klamme Bettwäsche, aus der er beim Einschlafen und Aufwachen einen gerade noch wahrnehmbaren Geruch von modrigem Meereszeug und Urin atmete.

 

Er sieht wieder das Gesicht des kleinen Mädchens in seinem Innern, in jener Dunkelkammer, die nur so zögernd etwas preisgibt: Ein blasses, spitzes Gesicht, schmale Lippen und die winzige Narbe unterhalb eines Mundwinkels. Er sieht vor allem ihre Augen, groß und von einer Farbe, die er sich nie hat erklären können: Ein schwaches Braun war darin und etwas Honigfarbenes, tief und durchsichtig.

 

Es war in den ersten Oktobertagen, damals vor über dreißig Jahren, die Herbststürme hatten mit Wucht gerade begonnen. Heulend wie Tiere verfingen sich die Winde im Reetdach des alten Kinderheims, mit Kratzhieben schlugen die Zweige der Obstbäume gegen die Hauswand - und es stahl sich, wie so oft in diesen Nächten, der Gedanke ins Herz, dass man verlassen und verloren sei und diese grausigen Naturgewalten eben so wenig länger ertragen könne wie das Heimweh. Dieses Gefühl hatten sie beide gemeinsam (das hatten sie sich einmal flüsternd gestanden), ebenso wie die Angst, wenn es polterte, pfiff und toste, als wolle das Meer sich zu Land begeben - eine Angst, die in den Nächten des Sturms leibhaftig wurde und aufrecht in den Betten der beiden Kinder stand wie ein Gespenst.

 

Er saugt mit den Augen das Licht auf. Die rauchige Luft wallt wie ein Schleier. Nur die Konturen der Frau dort sind ausgespart, bleiben im Lichtschatten. Und wieder sieht er die Bilder, fällt zurück in die Zeit, in der sie zusammen waren:

 

Wie sie sich heimlich davonmachten, stundenlang am Flutsaum entlang liefen, um Bernstein zu suchen, stell dir vor, echten Bernstein, der ist so viel wert wie Gold, wie Gold! Und sie lachte und lachte, wollte überhaupt nicht mehr aufhören zu lachen die ganze Zeit, bis er sagte: Es ist mir unheimlich, komm, lass uns umkehren. Die Schimpftiraden der Betreuer, der Stubenarrest.

 

Das Wetter wurde plötzlich noch einmal sommerlich sie konnten ohne Jacken und mit kurzen Hosen herumlaufen. Die Sonne wärmte wieder ihre Haut, währen sie am Strand spielten, und er bemerkte, wie das Haar seiner Freundin wieder diesen leichten Duft hatte nach Honig und Harz.

 

Er starrt ins Gegenlicht, dorthin, wo die Frau sitzt, heftet seinen Blick auf jenes schattenhafte Wesen wie auf ein Wunder.

 

Den nächsten Tag hat er in dunklen Gewitter umwölkten Bildern vor Augen - obwohl es doch spätsommerlich warm war damals. Sie hatten sich wieder einmal davongestohlen, hatten ihr Badezeug mitgenommen, waren wie verrückt darauf, zu dieser späten Jahreszeit noch einmal ins Wasser zu gehen. Dann hatte sich plötzlich der Himmel zugezogen, etwas Wind war aufgekommen; das Kreischen der Möwen war verstummt, jedenfalls ist ihm die Erinnerung an Geräusche und Farben abhanden gekommen. Sie waren wirklich ins Wasser gegangen. Und dann nur noch dies: Zitternd, mit blauen Lippen stand er bis zu den Knien in den Wellen, die sich ihm entgegen warfen, die Gischt spritzte ihm bis unters Kinn; schlotternd und mit den Zähnen klappernd konnte er einfach nur dastehen, mitten im Wasser und zusehen, wie das Mädchen, seine kleine Freundin, in den schäumenden Strudel zwischen einer Lücke in der Buhne geriet, sich drehte und im Meer versank, so als werde sie geschluckt zwischen der klaffenden Zahnlücke der Seepocken übersäten Holzpfähle, geschluckt wie von einem riesigen, Speichel gefüllten Maul.

 

Und das Meer stürmte gegen ihn an wie zur Verteidigung einer Beute, als sei er der Eindringling, der Fremde, der Feind. Es gab nur diese drei: Ihn, das Meer - und mittendrin das ertrunkene Kind.

 

Und das Meer stob gegen seine dünnen Kinderbeine an, als wolle es sie zerbrechen wie Holz, doch er blieb stehen, blieb stehen, als sei er der einzige feste Punkt auf dieser Welt, und das Meer griff nach dem Sand unter seinen Füßen, spülte ihn an den Seiten fort, doch ein winziges festes Fleckchen konnte er unter seinen Fußsohlen behalten. Und so musste er sich anstrengen, auf diesem dürftigen Grund stehen zu bleiben, nicht zu trudeln, nicht zu stürzen; starrte also immerzu auf jenen krausen Wasserwirbel, der wieder und wieder mit grauer, kalter Wut nach allem griff, was in die Nähe der Lücke zwischen den Pfählen kam.

 

Das Meer hatte ihn nicht zu ihr gelassen aus einem einfachen Grund: Er konnte nicht schwimmen. Nur ein paar Schritte ins Wasser hinein mochte er wagen, bis hin zu den Knien, oder, wenn er mutig war so wie jetzt, bis zum Saum der Badehose. Das Mädchen hatte ihm zeigen wollen, wie man es anstellen musste, das Schwimmen.

 

Je länger er auf das kreisende Wasser in der Lücke dort starrte, auf dieses ungeheuerliche Schlingmaul, auf die Stelle, wo sie versunken war, je länger er so regungslos auf seinem Fleckchen Grund stand, je öfter sein Zittern und Beben ihm immer neue Schauern über die vorstehenden Rippen und den ganzen mageren Körper jagten, je länger er damit beschäftigt war, den Unfassbarkeiten einer grauenhaften, ihm unbekannten Gewalt zu trotzen, um dieser am Ende möglicherweise doch zu erliegen - desto weniger war er in der Lage, das Geschrei und die Rufe, die vom Deich her kamen, überhaupt wahrzunehmen. Seine Sinne waren gefangen. Er hörte nicht mehr das laute Herbeieilen der Anderen aus den Dünen, wie sie, Namen und Kommandos ausstoßend, her gerannt kamen über den glatten Strand, den die Flut verlassen hatte; spürte auch nicht, wie einer ihn gerade noch rechtzeitig auffing, ihm von hinten unter die Achseln griff und seinen schlaffen Körper aus dem Wasser zog; wie seine eigenen Fersen dabei parallele Zeichen in den feuchten Sand zogen, Zeichen, die sofort wie aus Scham von murmelnden kleinen Wellen verwischt wurden, so, als wolle das Meer nicht einmal eine Spur von ihm.

 

Später dann, auf der Heimfahrt im Wagen seiner Eltern, griff er immer wieder in die Taschen seiner Cordhose: Da waren sie noch, die Bernsteine, nach denen sie gemeinsam so lange gesucht hatten. Er bewahrte sie jahrelang auf, auch dann noch, als sich herausstellte, dass es nur Flintsteine waren.

 

Die Frau steht auf. Wie sie ihren Mantel nimmt, kommt sie direkt unter einer Lampe zu stehen. Kein Schatten mehr auf ihrem Gesicht. Kurz treffen sich ihre Blicke, ganz flüchtig nur. Wie im Reflex greift er mit der Rechten in die Hosentasche - und hört von weit, weit her wieder das helle Kinderlachen.

 

(c) Rainer Bendt