Diebe

 

Vor zwei Monaten habe ich jemanden kennen gelernt, der tatsächlich den lächerlichen Vornamen Xaver trägt.

 

Es war purer Zufall, nicht so wie sonst. Xaver hockte bei MacDonalds und biss gerade genüsslich in einen Big-Mac, als ich mich einfach in Ermangelung besserer Plätze zu ihm setzte, an seinem Tisch war noch was frei.

 

Auf einem Flat-Screen lief gerade eine Dokumentation über James-Bond-Filme, gerade war „Goldfinger“ in Aktion und Xaver sagte einfach nur: „Gerhard Fröbe ist genial, einfach nur genial.“

 

Respekt, dachte ich, dasselbe hat Karl auch immer gesagt, und der hatte wirklich Ahnung von der Schauspielerei.

 

Und so kamen Xaver und ich ins Gespräch. Ich erzählte ihm davon, dass ich mal in einer Band gesungen habe, und er hörte mir geduldig zu, eben nicht mit der Miene, die sagen will: „Du langweilst mich, Babe, ALLE Frauen haben schon mal in einer Band gesungen.“ Nein, Xaver war wirklich interessiert. Ähnlich wie damals Robert, der mir nicht nur minuten- oder stundenlang zugehört hat, sonder ganze Tage. Aber irgendwie war es ihm dann doch zu viel und ich habe Robert nicht mehr wieder gesehen, nachdem er sich an mir innerhalb einer Woche ziemlich verausgabt hatte.

 

Xaver sah nicht schlecht aus, aber auf eine gewisse Art war das Unorthodoxe seines Äußeren nicht zu übersehen. Nicht, dass er ungepflegt war - vielleicht waren es auch einfach nur seine Klamotten, mit denen er ziemlich altertümlich daherkam, mochten es sich dabei auch um noch so gute Stoffe handeln.

 

Und? Was machst du so? Ich meine beruflich?“, fragte ich ihn wie beiläufig.

Nichts“

Wie, nichts?“

Na nichts.“

Ach so, verstehe – Hartz Vier?“

Xaver lächelte auf eine recht seltsame Art.

Keineswegs. Ich bin, na ja, sagen wir mal: Privatier.“

Aha. Privatier“, sagte ich und dachte: das klingt genauso arrogant wie interessant.

Und was bedeutet das genau?“ fügte ich hinzu.

Nun ja, ich muss mir über Kohle keine Sorgen machen. Ich hab sie einfach.“

Volltreffer! schoss es mir durch den Kopf. Und ich sagte:

Und dann sitzt du hier bei MacDonalds?“

Sorry, ich mag weder Hummer noch Schampus, das ist nicht mein Ding. Außerdem hat man nur dann Geld und kann es auch behalten, wenn man weiß, wie man damit umzugehen hat.“

Soso, Und das kannst du…“

Ich denke, ja, definitiv.“

Lass uns über was anderes reden als über Geld, das interessiert mich nicht.“

 

Es war nicht sonderlich schwer, Xaver an den Haken zu bekommen, trotz seiner zurückhaltenden Art, die ich mochte. Als wir das Schnellrestaurant verließen, hatten wir uns am nächsten Tag fürs Kino verabredet.

 

Xaver war eigentlich ein guter Liebhaber. Er war gut gebaut, alles stimmte. Himmel, ich versteh noch heute nicht, warum der Mann sich nicht nach Herzenslust in der Welt herum getan hatte sondern stattdessen hier in dieser mittelmäßigen Stadt brütete.

 

Trotzdem fehlte alles in allem irgendetwas zwischen uns, und davon eine Menge. Aber das sagte ich ihm nicht. Im Gegenteil. Wie ich es gewohnt bin, tat ich so, als sei er der wichtigste Mensch in meinem Leben.

 

In den nächsten Tagen und Wochen gingen wir öfter aus, als ich je in meinem Leben ausgegangen war, Xaver hielt mich stets frei und am Anfang genoss ich dieses Diva-artige Leben an seiner Seite. Es ist ein seltsames Gefühl, in Opern und Theateraufführungen zu gehen, die eigentlich vollkommen langweilig sind. Dafür sind die Pausen umso interessanter: Xaver stellte mich Leuten vor, denen ich in meinem normalen Leben niemals begegnet wäre – der ganze obere Schaum der High Society, Professoren, Regierungsräte, Intendanten, Pressesprecher und so weiter, ich frage mich im Nachhinein, woher dieser biedere Xaver all diese Leute kannte.

 

Als wir sechs Wochen lang zusammen waren, zog ich endlich meine Masche ab. Nicht ohne mich vorher zu vergewissern, dass seine Gefühle für mich intensiv und wirklich echt waren.

 

Nachdem wir in einem indischen Restaurant zu Abend gegessen hatten, gingen wir zu ihm nach Hause. Er wohnte in einem geschmackvoll eingerichteten Vier-Zimmer-Penthouse hoch oben über der Stadt. Das Interieur bestand fast ausschließlich aus irgendwelchen Antiquitäten der gehobenen Art. Unter der Dusche, in der mindestens vier Personen gleichzeitig für ihre Körperreinigung hätten sorgen können, vögelten wir kurz und schmerzlos, dann gingen wir ins Bett.

 

Während ich neben ihm lag, las er noch in einem dicken Wälzer, der Titel war Ulisseus oder so ähnlich, von einem Autor namens Juice oder Joy, wenn ich mir den Namen richtig gemerkt habe. Ich lag neben ihm und starrte zur Decke. Wie immer gelang es mir, kleine Tränen in meine Augen zu drücken, dann versuchte ich, ihn durch ein Gespräch von seiner Lektüre abzubringen.

 

Du, Xaver?“

Mhm?“

Ich muss dir was sagen.“

Na dann sag.“

Du, das ist nicht so leicht für mich.“

Was?“

Das zu sagen, was ich dir sagen will – wenn du liest.“

Xaver legte seufzend sein Buch auf den Nachttisch, drehte sich zu mir und sah mich an.

Was ist denn, Louise?“

Nun ja….ich habe da ein Problem.“

Sprich. Rede einfach und komm auf den Punkt.“

Du willst es eigentlich gar nicht wirklich hören.“

Louise!“ Er schaute mich entnervt an. „Wenn du ein Problem hast, dann sag es mir, ich höre dir gerne zu, solltest du inzwischen wissen. Nur schleiche nicht wie die Katze um den heißen Brei, bitte.“

Du hast ja Recht, aber es fällt mir nun gerade nicht leicht darüber zu sprechen. Ich vertraue dir, deswegen sag ich’s dir jetzt. Ich schulde jemandem Geld, ziemlich viel Geld. Der Typ heißt Dieter, Dieter Graffhold und ist der Besitzer von so einem Schuppen…“

Was für ein Schuppen?“

Eine Diskothek. Nicht hier, sondern in München.“

Aha. Und wie viel schuldest du ihm?“

Sehr viel.“

WIEVIEL?“ Xavier stöhnte wieder.

4.000 Euro.“

Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel, sichtbar zurückgehalten, aber ich bemerkte es doch.

Und wo genau ist jetzt das Problem?“ sagte er mit einer Stimme, die mich an meinen Deutschlehrer aus der Schulzeit erinnerte.

Das Problem ist, dass ich das Geld nicht annähernd habe und dass er mir Leute auf den Hals hetzt.“

Was für Leute?“

Na, seinen Türsteher zum Beispiel. Als ich vor drei Tagen nach Hause kam, saß der Typ in meiner Wohnung und hat mich bedroht.“

Dich bedroht? Inwiefern? Wie kommt er in deine Wohnung?

Keine Ahnung, die Kerle haben Werkzeuge, um Schlösser zu knacken. Schau hier.“

 

Ich zeigte ihm einen blauen Fleck an meinem Oberarm, den ich mir vor vier Tagen bei einem Date mit Jens zugezogen hatte. Jens hat mir übrigens „kurzfristig“ 8.500 Euro zur Verfügung gestellt, obwohl seine Firma kurz vor dem Konkurs steht. Hut ab vor soviel Dummheit.

 

Er hat mich ziemlich heftig angefasst und mir ein Ultimatum bis übermorgen gestellt.“

Und warum bist du nicht zur Polizei gegangen?“

Die glauben mir eh nicht.“

Verstehe. Ist ja auch eine ziemliche Räuberpistole, das Ganze, solange du keine Beweise dafür hast, dass du tätlich angegriffen wurdest. Der blaue Fleck kann schließlich sonst wo hergekommen sein.“ Xavier sah mich vieldeutig an.

 

Was schaust Du mich so an?“

Wie schaue ich Dich denn an?“

Komisch.“

Dann lach doch!“

Ach Xavier, mir ist weiß Gott nicht zum Lachen, nimmst du mich überhaupt ernst?“

Ich nehme dich sehr ernst.“

 

Mir war zwar unwohl bei dem Gedanken, und dennoch fragte ich ihn nun gerade heraus: „Kannst Du mir nicht das Geld leihen?“

Xaver schien nachzudenken. Er zögerte. Vielleicht kämpfte er sogar mit sich.

Ich überleg’s mir.“

 

Draußen ertönte von irgendwo her das Heulen eines Martinshornes, wurde leiser und verstummte. Es war schwül. Der volle Mond war noch verdeckt von der Hauswand, strahlte sein Licht aber schon mit Macht auf den Balkon.

 

Übermorgen brauch ich das Geld. Nicht viel Zeit zum Überlegen, mein Xaver. Wäre schön, wenn du mir aus der Patsche helfen könntest“, sagte ich, während mir unbeachtet die Tränen von den Wangen liefen. Diesmal waren es keine gedrückten Tränen.

Zeit genug“, sagte Xaver, „hab mal keine Panik.“ Er drehte sich um und war innerhalb von zwei Minuten eingeschlafen.

 

Ich war in höchstem Maße irritiert. Das war mir noch nie passiert. Auf die Mitleidsmasche waren sie bisher immer angesprungen. Und zwar sofort. Wer war dieser Mann, der mir zwar nie ausdrücklich seine Liebe gestanden hatte, stets aber den Anschein erweckt hatte, als würde er mich lieben und wirklich an mir hängen? Wie konnte er so gefühllos sein und einfach schnarchend in einen seligen Schlaf fallen?

 

Tresorschlüssel sehen anders aus als gewöhnliche Schlüssel, das habe ich im Laufe der Jahre gelernt. An Xavers Schlüsselbund hatte ich einen solchen Schlüssel bemerkt. Und ich wusste, wozu dieser Schlüssel gehörte. Ein weiterer Vorteil war, dass Xaver auch nachts seinen Schlüsselbund in der Hosentasche ließ.

 

Xaver schnarchte leise. Ich verließ lautlos und vorsichtig das Bett.

 

Das Rosenbild. Er hatte es einmal von der Wand genommen, um mir die Widmung zu zeigen, die der Künstler vor über 150 Jahren auf die Rückseite der Leinwand geschrieben hatte: „Für Louise“. Eine zufällige Namensgleichheit, die ihn begeistert hatte. „Irgendwann werde ich Dir das Bild schenken“, hatte er gesagt.

 

Und hinter dem Bild befand sich der Wandtresor.

 

Sein Schlüsselbund lugte halb aus der Hose, kein Problem für mich, ihn geräuschlos an mich zu nehmen. Nackt schlich ich mich ins Wohnzimmer, hin zum Rosenbild. Ich nahm es ab. Der Schlüssel war recht klein, mit sehr ausgefallenen Zacken an seinem Bart. Ich steckte ihn ins Schloss, drehte ihn einmal, zweimal herum.

Verschlossen. Ich drehte ein drittes Mal, ein viertes Mal - es klickte dumpf-metallisch, dann öffnete ich die Tresortür.

 

Ich hatte Glück, dass der volle Mond jetzt durch das Wohnzimmerfenster fiel. Sein Schein erfüllte das Zimmer mit einem matt-silbrigen Schimmer, der die Dinge schemenhaft erkennen ließ. Was den Tresorinhalt anging, musste ich mich erst an dieses diffuse Licht gewöhnen und sah zunächst rein gar nichts. Keine dicken Geldbündel. Dann nahm ich im Tresor drei, vier Gegenstände wahr, die sich in kleinen, transparenten Plastikbeuteln befanden. Einen davon nahm ich heraus, um ihn in Augenschein zu nehmen. Es war ein kleiner, länglicher Gegenstand, ich ging etwas näher zum Fenster damit – und erstarrte. Wie elektrisiert, so, als strömten tausende von Volt durch meinen ganzen Körper, ließ ich das Ding fallen. In der durchsichtigen Plastiktüte befand sich ein menschlicher Zeigefinger, dürr, hart und wie mumifiziert. Gerade, als ich mich bückte, um mit zitternden Händen das Ding aufzuheben und näher in Augenschein zu nehmen, nahm ich einen ohrenbetäubenden Knall war, der meinen Schädel erbeben ließ, und verlor das Bewusstsein.

 

Vermutlich hat Xaver mich in diesen Park geschafft, wer sonst. Unter großen Schmerzen erwachte ich vollkommen nackt auf einer Parkbank, geweckt von der Kälte und vom morgendlichen Vogelgeschrei, das mir schrill und scharf in den Ohren gellte. Mein Mund war verschmiert von irgendwas, das bitter und ekelhaft schmeckte, noch halb betäubt musste ich mich übergeben. Dann erst nahm ich am ganzen Körper zitternd war, dass meine linke Hand vollständig verbunden war und pochte wie ein Metronom. Mein Zeigerfinger schmerzte auf eine Art und Weise, die mich meine Unterlippe zerbeißen ließ.

 

Ich sah genauer hin: Nein, Es war nicht mein Zeigefinger, der schmerzte, sondern die Stelle an meiner linken Hand, an dem sich vor kurzen noch mein Zeigefinger befand. Man nennt dies Phantomschmerz.

 

In diesem Moment wurde mir erneut schwarz vor Augen, so, als befände ich mich in einem Tresor, dessen Tür sich wie von selbst schließt.

 

 

© Rainer Bendt 2009