Déjà Vu

 

 

 

 

Er war frei.

 

Es war ihm wieder möglich zu atmen, so wie früher, wenn er bei den Spaziergängen, die er damals noch regelmäßig unternommen hatte, die frische Luft tief in sich aufsog. Und etwas beinahe schon Verschüttetes in ihm vollführte auf einmal kleine Bocksprünge, machte ihn übermütig, drängte ihn hinaus ins Freie. Er fühlte sich wie ein Junge, bereit, verrückte Dinge zu tun, ein längst vergessenes Leben wieder aufzunehmen.

 

Er war frei.

 

Ein schwieriges, von langer Hand angebahntes Geschäft hatte er erfolgreich abgeschlossen, seine Bücher waren in Ordnung, die Anwaltsgeschichte, der schwelende Streit mit Meinratshagen – es war alles zu einem Ende gekommen, innerhalb einer einzigen Woche, er wusste selbst nicht so recht, wie. Selbst die unangenehme Geschichte mit Ursula: Von heute auf morgen hatte sie ihm die Hausschlüssel zurückgegeben, dabei sanft seine Hand länger als nötig berührt. Hatte irgendetwas von Last und Verantwortung gesagt und war dann aus seinem Leben verschwunden, zurück in ihr eigenes hinein – denn ein gemeinsames hatten sie nie gehabt.

Die amorphe, gefährliche Masse, die in seinen nächtlichen Angstträumen sein Leben verklebt hatte wie das Gespinst einer Spinne ihr zappelndes Opfer – sie war wie weggeblasen. Es war alles so einfach gewesen: Ein Haar in der Milch, das man mit Daumen und Zeigefinger greift und fortschnippt.

Am Freitag war ihm der Gedanke gekommen, einen Freund, der in Frankfurt lebte, zu besuchen. Seit zwei Jahren hatten sie sich nicht gesehen, und er beschloss, Martin zu überraschen.

Er war frei, und so fuhr er am Samstag nach Frankfurt. Lange, sehr lange war es her, dass er zum letzten Mal in dieser Stadt gewesen war.

Martin, der Freund, war nicht zuhause. Gut. Er konnte warten. Er hatte Zeit.

 

Die Stadt war voll. Hotels und Pensionen waren belegt von Messegästen. Und weil er Glück hatte, fand er nicht weit außerhalb in einem Städtchen, das er nicht kannte, ein kleines Zimmer. Noch nie war er so viel herumspaziert in der Landschaft wie jetzt. Es war Anfang Oktober, deutlich kühl schon trotz des strahlenden Wetters.

Er liebte es, dem Atemdunst der ersten Kälte zuzusehen, wie er aufsteigt und vergeht im Sonnenlicht. Silberne Fäden glänzten im schütteren Laub von Holunder und Haselnuss, noch standen Rosenkohl und Porree in den Gärten; über den Obstwiesen zeterten Elstern, und ihr Geschrei behielt er lange im Ohr. Und dann, an einer windschiefen Stallung, an einer Biegung des Weges dort, ein Plakat irgendeiner Rock-Band in verblasstem Signalrot, daneben ein Zigarettenautomat am Wartehäuschen einer Bushaltestelle, und dahinter, auf der eingezäunten Wiese, eine urtümliche Badewanne im Gebüsch – und ein Geruch. Er wusste: Das kennst du. Hier warst du schon mal. – Diese Konstellation von Zufälligkeiten, genau dieses Arrangement von Dingen, die einem dieses ganz bestimmte Gefühl vermitteln, war ihm nicht unbekannt. Aber noch nie war es so intensiv wie jetzt, noch nie hatte er sich mit so quälender Härte gefragt: Wann zum Teufel warst du hier? Möglich, dass ganz ähnliche Konstellationen an hundert verschiedenen Orten vorkommen. Eine Frage des Lichtes vielleicht, oder der Perspektive. Er wollte Beruhigung.

Und so marschierte er weiter und kam, als die Dämmerung hereinbrach, in eine kleine, ländliche Ortschaft, trödelte gedankenverloren an buckligen Fachwerkhäusern die enge Hauptstraße entlang, als er wieder einen Geruch wahrnahm, den er kannte. Und er wusste: man kann sich an alles erinnern, nur nicht an Gerüche – zumindest war er davon überzeugt, dass er es nicht konnte. Wohl kann eine bestimmte, längst verschollene Erinnerung durch einen Geruch wieder zutage gefördert werden. Und Orte… Mit traumwandlerischer Sicherheit wurde ihm klar: Genauso war es damals gewesen, ja, hier muss es gewesen sein – aber was?

Hier kam beides zusammen: der Geruch, der Ort, das Licht, die Farben, die Perspektive, die Tages- und Jahreszeit – und die Tatsache, dass er frei war. Ein ganz bestimmter Abend – nein, es konnte nicht sein, denn das damals, das war doch im Hochsommer!

Für den Bruchteil einer Sekunde stieg ihm der Duft von vollreifen Lageräpfeln in die Nase, herüber geweht aus dem Keller einer Gastwirtschaft.

In blassem Rosa verdämmerte der Abend; über dem gegenüberliegenden, weit offen stehenden Hoftor der Gastwirtschaft las er: „Äbbelhof“. Stimmen drangen zu ihm hin. Er überquerte die Straße und ging hinüber. Laternen mit der Aufschrift einer Brauerei beleuchteten spärlich einen Kastanien bestandenen Biergarten.

Falter tanzten um die Laternen, taumelten und fielen geblendet zu Boden, andere stoben in wilden Bögen hinauf in den abendlichen Himmel. Überall saßen Leute auf Bänken an groben Holztischen. Er fand einen Platz an einem großen Fass, das zu einem Stehtisch umfunktioniert worden war. Ein Kellner kam und er bestellte einen Apfelwein, den hatte er früher oft und gern getrunken. Als man ihm das Getränk brachte, kostete er und stellte fest, dass es ganz anders schmeckte als früher. Er versuchte, sich an diesen früheren Geschmack zu erinnern ohne große Hoffnung darauf, dass es ihm gelänge. Und dann schaffte er es, sich zu erinnern und die Bilder von damals stürzten auf ihn ein mit aller Macht.

 

In genau diesem Augenblick sah er die Frau am Nachbartisch. Er konnte gerade noch den Kellner zu sich zu winken und ein zweites Glas bestellen. Plötzlich wurde ihm so heiß, dass es ihn zwischen den Augenbrauen kitzelte. Die Frau saß neben einer Gruppe von Ausflüglern, zu der sie aber offensichtlich nicht gehörte. Sie war allein. Ohne weiter nachzudenken ging er von seinem Stehtisch auf sie zu. Die Frau, wohl in Gedanken, schaute auf und lächelte etwas verlegen.

Marion?“

Sein Körper senkte sich ganz langsam, bis er auf der Sitzbank angekommen war und dein freien Platz gegenüber der Frau eingenommen hatte. Mit den Händen hielt er sich zunächst an der Tischkante fest und beugte den Oberkörper ein wenig hin zu ihr. Sie sah ihn fragend an, blieb aber eine Antwort auf seine torsohafte Frage schuldig.

Erkennst du mich nicht mehr? Dreiundsiebzig, nein, halt – es war vierundsiebzig, hier in Frankfurt, das Seminar, Wittlinger, Schneider und… Moment… wie hieß der noch, der mit dem roten Gesicht, Zöller oder Zeller, und der Ausflug, weißt du noch, du hattest dir den Knöchel verstaucht, Mensch, mir ist, als wäre das erst gestern gewesen – Kellner! Noch einen hiervon, bitte, ja danke, meine Güte, unglaublich, du siehst ja noch genauso aus wie damals, nur die Sachen, die du trägst, na ja, das steht dir hervorragend, wirklich sehr vorteilhaft, wenn man bedenkt, dass du doch früher eher, sagen wir mal, lässiger, mein Gott, aber das waren ja auch andere Zeiten, waren das und die Jahreszeit, August, Hochsommer, da waren wir doch alle in Schlabbershirts unterwegs, herrje, und die Hitze, Rekordsommer hieß es, der eine, ich glaub Schneider, hat sich die Hosenbeine abgeschnitten, was haben wir gelacht, diese Beine, Spinnenbeine, Daddy Longleg, aber gesoffen hat er wie ein Loch, haben wir alle, ja, doch, dieses Stöffchen hier, so sagt man hier doch…“

 

So begann er zu reden, spulte alles ab, sich kaum im Klaren darüber, ob sein Gegenüber ihm überhaupt zuhörte oder nicht, war kaum in der Lage, zu erkennen, wie hilflos er im Strom der Erinnerung versunken war, ein Strom, der seine Rede weiter und weiter trieb und seinen Verstand links liegen ließ wie einen Regenschirm, den man bei bestem Wetter im Ständer hat stehen lassen. Hinzu kam das Getränk, der kühle Herbstabend mit seiner inneren Milde, die Luft, die Weite. Er war ja frei.

 

Wie er so redete, schien ein Ausdruck von Verwunderung, vielleicht aber auch von Erkennen über das Gesicht der Frau zu fliegen. Jedenfalls verhielt sie sich nicht abweisend, im Gegenteil, sie brachte ihre Hände immer näher in die Nähe von seinen, die zwar meist während seines Monologes gestikulierten, aber auch dann und wann auf dem dunklen Holz des Tisches ruhten.

 

Es gab die Gerüche und die Orte. Und während er redete, hatte er auf einmal gewissermaßen beides auf der Zunge, das eine konnte er riechen, hier, neben sich, wie damals, das andere hatte er überdeutlich vor seinem inneren Auge und gab es jetzt frei für seine Zuhörerin, indem er davon sprach, es ausmalte, so wie es gewesen war, nicht mehr und nicht weniger, und das gelang ihm. Er war ein ausgezeichneter Erzähler und er hatte eine sehr aufmerksame Zuhörerin, in deren Gesicht weit mehr als Interesse zu lesen war.

 

Wie war das noch, sagte er. Sein Tonfall änderte sich, ebenso seine Diktion, sie wurde geordneter, weniger aufgeregt als zu Beginn seiner Rede.

 

Sie waren damals spätabends noch ausgegangen, zu dritt oder zu viert, eigentlich war er hundemüde gewesen. Sie waren durch Weinberge und Obstgärten gestreift wie Pfadfinder, es war so dunkel gewesen, dass man die Hand vor Augen nicht erkennen konnte. Sie hatte den Ast nicht gesehen, der mitten im Weg lag. Man war dann noch irgendwo eingekehrt, hatte getrunken, aber nicht mehr viel, dann hatte sie über starke Schmerzen geklagt.

 

Sie hatte ihn beiseite genommen, ihren Schuh samt Strumpf ausgezogen und ihm den angeschwollenen Knöchel gezeigt. Die anderen hatten noch bleiben wollen, und so waren sie beide – er hatte ein Taxi bestellt – allein ins Hotel zurück gefahren. Ein Fingerzeig des Schicksals, so hatte er es damals bezeichnet, Verbandszeug und eine kühlende Salbe in seinem Gepäck vorrätig zu haben.

 

Irgendwann zum Morgengrauen hin hatte er sie dann neben sich leise vor sich hinschluchzen hören, und er wusste noch, wie unsicher er gewesen war, ob es wegen des schmerzenden Fußknöchels oder wegen etwas vollkommen anderes war, weshalb sie schluchzte.

 

Am frühen Morgen hatte es dann endlich angefangen zu regnen. Die Nacht war am Fenster zerronnen, als er aus unruhigen Träumen erwacht war. Die leere Stelle neben ihn war noch warm gewesen.

 

Unten, an der Rezeption hatte man ihm gesagt, dass Marion ins Krankenhaus gefahren sei. Er hatte sich den Weg beschreiben lassen und ist dann hingefahren. Dort angekommen, hatte man ihm klar gemacht, dass dort keine Frau dieses Namens angekommen sei. Noch in zwei, drei weiteren Krankenhäusern hatte er nachgefragt, allerdings ohne Erfolg.

 

Als er schließlich in der Bahn saß, die ihn wieder ins Rheinland bringen sollte, war ein unangenehmes Gefühl wie von erlittenem Unrecht in ihm wach geworden, er hatte dieses Gefühl zwar bekämpft, sich aber dennoch später bei dem Gedanken ertappt, ob sie ihm überhaupt ihren richtigen Namen genannt hatte. Als ihm schließlich eingefallen war, dass ihr vielleicht ja auch etwas passiert sein könnte, hatte er sich tagelang geärgert über sich selbst und seine Dummheit.

 

Er hatte alles getan.

Es war ihm auch gelungen, sich die Adresse der Frau mit dem ihm bekannten Namen, Marions Adresse, zu beschaffen, und er hatte ihr zweimal geschrieben und lange auf Antwort gewartet. Sie war ausgeblieben. Als er schließlich zu ihr hinfuhr, war ihr Name an den Klingelschildern nicht auszumachen.

 

Und schließlich, nach vielen Monaten, waren andere Dinge auf ihn zugekommen, Dinge, die sein Leben vollständig in Beschlag nahmen. Und so, wie Marions Knöchel in seiner Vorstellung längst verheilt war, so war auch seine Erinnerung an sie irgendwann verschorft.

 

Die Frau, mit der er den Tisch teilte,  hatte ihm mit äußerster Geduld zugehört, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen, hatte erst hier und da in den Fluss seiner Rede hinein gelächelt, aber ihre Aufmerksamkeit wurde zusehends angespannter, mitunter schien es, als bemächtigte sich ihrer eine angstvolle Nervosität, eine innere Unruhe, die sich zwar nicht störend auf das ihr Anvertraute auswirkte, die aber eine Hilflosigkeit offenbarte, mit der sie nicht umzugehen wusste, beinahe schien es, als kämpfe sie mit einem Gefühl von Ablehnung und Bewunderung zugleich, jedenfalls war er, der Redner mit den roten Wangen und den leuchtenden Augen weit davon entfernt zu bemerken, dass sich überhaupt etwas im Inneren seiner Zuhörerin abspielte, und erst, als er atemlos den Schlusspunkt unter seine Erzählung gesetzt hatte, da durchfuhr es Ihn. Und sie nahm ihm das leere Glas aus der Hand, er konnte dabei sehr deutlich ihre kleine, weiche und sehr kalte Hand spüren, sie hielt ihm gewissermaßen wie zur Beruhigung seine eigene Hand nieder, mit der er die ganze Zeit gestikulierend seine Rede untermalt hatte. Ihn fröstelte und gleichzeitig wurde ihm wieder heiß, denn ihm war plötzlich bewusst geworden: sie hat ja noch kein einziges Wort gesagt, jetzt wird sie reden – und noch bevor er seine Hand aus ihren kalten Händen winden konnte – denn nun hielt sie ihn fest – sah sie ihn mit traurigen, Tränen gefüllten Augen an und sagte: „Es tut mir leid, wirklich, es tut mir so leid, ich musste Ihnen zuhören, ich konnte einfach nicht anders, sie haben so unglaublich schön erzählt, und Ihre Stimme - Deine Stimme - kommt mir so vertraut vor, ich glaube Deine Stimme zu kennen, wirklich, und Deine Augen – aber ich bin nicht Marion.“