Austern essen
Deine Finger strichen nur kurz
über die schartige Schale
das Austernmesser mit kurzem Blatt
hast du angesetzt
in der winzigen Furche am Rand
Die Schalen auseinander-
gebrochen
mit leichter Hand
kennerhaft am zarten blassen
empfindlichen Fleisch gerochen
Ob es auch gut ist.
Die Seele von Wind und von Meer....
Zitrone? Nein danke!
Gourmets genießen die Auster pur.
Und mit der Zunge langst du
mitten hinein ins salzige weiche Gekröse.
Schlürfend, weil es sich so bei Austern gehört,
saugst du das Herz und das andere
in deinen Mund.
Im unerbittlichen Blau
des Himmels über dem Hafen
kreisen und kreischen die Möwen.
Vollkommen ausgelutscht
bis auf die weißen, inneren Wände
wiegst du einen Moment lang die leeren Schalen
in deiner Hand --
Dann wirfst du sie
„Ach, das war gut“ auf den Lippen
achtlos zu Boden.
Unter den Tritten derer, die nach dir kamen
zerbrachen
die Hälften der schartigen Schalen alsbald.
Wie gut nur, dass du nicht mit mir
Austern essen gegangen bist.
Der Spiegel
Da stehst du nun. Und um Dich Stille, gefährlich ungewohnt.
Der Autolärm, der Dauerton der Rasenmäher und selbst der Vogelschrei
sind abgestellt – wohin, warum auch immer. Das Tageslicht nimmt ab
und nur der alte Spiegel hier in diesem Haus, darin es modert
wie vor Jahren, wirft Licht dir zu inmitten abgeplatzter, schwarzer Flecken.
Wozu taugt dieses alte Ding, das lange sinnlos hing mit seinem Rücken
dorthin zur Wand, nach hinten blind und stumm und taub
nach vorn jetzt klar, mit Brüchen zwar, da du den Staub
mit bloßen Händen abgewischt hast und dein Taschentuch
zur Hilfe nahmst. Das Glas anhauchtest wie einst Gott den Lehm.
Einstweilen wird kein neuer Mensch entstehen. Es sei denn, du
lässt los von dem, was war, was ist, was kommt. Dich einfach
fallen lässt und Rückschau hältst in diesem letzten Licht des Tags,
der sinkt. Reflexion, Interferenz im fahlen Licht des Spiegels,
dem die Beschichtung aus Metall vom Rücken fällt und schwarze Löcher lässt.
Da stehst du nun, mit Stoppeln, die fahl aus der Gesichtshaut ragen,
seltsam vergrößert, dornengleich - und du erstarrst.
Wo ist das alles hin, was war? Suchst du noch immer dunkle Ecken
und stille Nischen, seit Jahren unbewohnte Viertel, wohin du fliehen kannst?
Deine Erinnerung an alle Höhen, Tiefen erscheint dir jetzt geronnen,
Anstatt von Blut nimmt immer noch ein dunkler Saft den zähen Lauf durch deine Adern,
wie eingekocht und kondensiert zu einer Masse und schwärzer noch als jeder Schmutz.
Es ist nun Zeit, dir selber ins Gesicht zu schauen. Kehr heim zu dir,
Nimm alles an, was war, damit du es für immer jetzt mir dir versöhnst.
Und was dich viel zu lang vom Leben trennte: die faulige Membran musst du durchstoßen.
Dann wirst du zwischen dunklen, abgeplatzten Flecken im Glas des Spiegels
blaue Venen sehen, und Haut, aus der das Bleiche weicht, auch unergrautes Haar,
Arterien mit Menschenblut gefüllt und rote Äderchen in deinen lichtentwöhnten Augen,
vielleicht ein Lächeln, ohne Gram, wie durch ein Wunder eingeschmiegt
in deinen Blick, in dem du nie zuhause warst, der alles sah - nur nie sich selbst.
Einer vom Fach
Er hat stets einen Zirkel dabei
mit dem er sich
eingebildeten Schmutz
unter den Nägeln entfernt
Er hält nichts von Poesie
Geometrie ist sein Fach
Lektorenträume ersetzt er
spielend durch Vektorräume
Er ist ein Mann
mit Ecken und Kanten
Sekanten, Tangenten
lebt im euklidischen Raum
Doch lädt er mich ein
In seine Kreise
und sagt: dort geht’s rund
bis in den letzten Winkel.
Geologie der Poeten
Glutheiß-flüssige Magma
zu Tage getreten
jetzt fest gefügt
Wortmuster dicht an dicht
wie Basaltsäulen
An versandeten Ufern
mäandernden Lebens
winzige Körnchen aus Gold
und Nuggets im Schürfsieb
der Dichter
Feuerstein trifft auf Pyrit:
wir schlagen Verse
wie Funken aus uns heraus
Unter Tage graben wir
nach dem fossilem Brennstoff:
anthrazitener Wortglanz
Energie aus Licht für Poeme
Verdichtet aus tausenden
Tonnen von Kohle
schlummern Rohdiamanten
ganz tief im Innern
in uns, wartend auf Bergung.
Aufbruch
Ich packe meine alten Sachen
und schicke sie per Post zurück
an die Adresse: unbekannt.
Ich habe den Himmel, das Licht im Blick
seit wir uns trafen.
Zwölf auf der Stirn zeigt die Uhr
an transparenter Zukunftswand
in unserem Morgenhafen.
Hier kann ich mit dir nur
lebendig erwachen.
Entrümplung
Mürbe Mauern, feucht, verwaist,
Kälte nistet in den Wänden.
Dinge liegen hier und dort
ohne Sinn und längst vergessen.
Und im Netz die Spinne kreist.
Gegenstände, staubbedeckt,
namenlos in deinen Händen -
Traurigkeit füllt diesen Ort.
Und du kannst es nicht ermessen,
wie weit sich der Tod erstreckt.
Was an deiner Seele reißt,
alles das wird sehr bald enden:
Du räumst so die Dinge fort,
die von deinem Herzen fressen.
Nur im Netz die Spinne kreist.
Medusa
Eine zerknüllte Plastiktüte von einem Discounter
Hab ich aus Leipzig mitgebracht
Darin eine Kachel gewickelt,
Die hab ich gefunden auf einem Gelände -
Medusa.
Auf einem Grundstück, wo Häuser standen
Gründerzeit, runtergekommen, marode
Der Platz voller Schutt ist nun gut
Für einen neuen Discounter,
Medusa.
Dein Gesicht blickt mich an,
Mit aufgerissenen Augen,
Der Mund aus Emaille verzerrt und so schön!
Nicht mehr verkachelt, die Schlangen im Haar,
Medusa:
Die Schlangen sind wieder lebendig,
Sie zischen und gieren und scheren
Sich nicht um Ruinen, nicht um Geschichte.
Was zählt, ist Rendite,
Medusa.
Auf Portugisisch zu sprechen
Hätte ich einen Wunsch frei
wäre es der
dass ich die portugiesische Sprache
beherrschte
so könnte ich dann
die Kommentare
auf alten Seefahrerkarten
entziffern
ich könnte
Pessoas Sätzen
im Original
nachspüren -
aber vor allem
könnte ich dann
Rosa Marias Stimme
in ihrer Muttersprache
fühlen, verstehen
ich könnte mit ihr
reden über das Leben
und über uns
so wie das Wasser hinabließt
den Tejo.
Unzeitgemäßer Frühlingsspaziergang in Distichen*
Ist es die Luft? Oder der Atem erwachter Natur?
Oder veränderter Klang allenthalben, Stimmen
Von singenden Vögeln und Farben? Tage wie Samt und voll Licht.
Auch ich bin erwacht. Fühle den sprudelnden Strom
Längst vergangener Stimmen, die mich einst riefen mit Macht.
Ich blase den Staub von den Büchern und lasse die alten
Dichter heraus. Novalis ruft und Hölderlin drängt.
Goethe und Schiller machen sich auf zum Spaziergang.
Sie nehmen mich mit. „Sentimentalität“, sagen sie,
„Nennen heutige Menschen das, was wir früher
Empfindsamkeit nannten. Also lasse Er bitte nicht nach
Weiter unzeitgemäße Poeme zu schmieden.“
*(Anmerkung: Das Distichon ist ein Doppelvers, der aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht.)
An den Gott der Christen
Kein stilles Flüstern trägt der Wald
Mehr in dies fremde Haus.
Kein Licht brennt unbedacht.
Die Welt ist kalt.
Und DU wirst ausgelacht:
Auf ihrem eigenen Altar
Bringt sich die Welt
Gold, Weihrauch, Myrrhe dar -
Oh kalte Nacht.
Gefälschte Welt
(dargeboten in einer gefälschten Form von Hexametern)
Samtene, schmeichelnde Welt, auf die du dein Haupt bettest,
Nacht für Nacht! Fantastischer Spiegel
der nur das von dir spiegelt im Netz, was du gern willst!
Ginge denn jemand dein wirkliches Leben was an?
Nur in dem Spiegel kannst du dich schminken, und Bilder von dir hinterlassen
Welche dich zeigen, wie du dich willst, im besten Fall aller Fälle.
Der gibst dir das, was dir ansonsten das Leben versagt.
Der gibt dir Hoffnung auf Liebe, Anerkennung und Akzeptanz.
Und alle buhlen um dich und dein Bild,
das du von dir hier eingestellt hast. Seltsame Welt!
Sie schauen und gaffen, heischen nach dir und schreiben dich an
ohne wirklich zu wissen, wer du denn bist.
Sie wollen dich haben, wollen dich sehen, du bist ihre Ikone.
Das Bild funktioniert. Du hast es erschaffen, du freust dich daran,
bis dich die Wahrheit des Lebens wieder erreicht,
bis du abermals strauchelst und fällst im wirklichen Leben -
wo niemand ist, der dir die Hand reicht und dich umarmt,
der dir die Küche macht oder die Wäsche,
die du verbannt hast ins hinterste Zimmer
deiner gefälschten Welt.
Viel zu spät
Wenn alles zu spät ist,
ist meist alles zu viel.
Bei meinen Leisten blieb ich nicht.
Ich bin ja kein Schuster.
Warnungen schlug ich weit in den Wind.
Jetzt schlägt das Leben zurück.
Ich nehme das mit. Das nimmt mich mit.
Ich war ja so überheblich
habe ich mich überhoben
noch knacken die Knochen.
Sie brechen zwar nicht
aber ich könnte kotzen vor Schmerz.
Wenn alles zu viel ist,
ist es meistens zu spät.
Der Geruch der Morchel
Im Nebel am Morgen
am fauligen Graben
worin das Wasser gesättigt ist
mit Abfall in allen Farben
steht eine Morchel im schimmligen Gras
wetteifernd mit bleierner Brühe
um einen Gestank, der den Atem nimmt,
herb und süßlich zugleich
Geruch, der Neugier erweckt
die Galle in Wallung versetzt.
Auf der Parkbank daneben
füttert ein Rentner mit altem Brot
überfettete Enten
im Nebel am Morgen.
Strahlendes Weiß
So also ist das:
wenn dich die Fliehkraft des Lebens
bis an die äußersten Grenzen
hinaus katapultiert
dort hin, an die zerfaserten Ränder
wo dein eigener Herzschlag
nichts weiter ist
als ein Echo
von etwas gänzlich Fremdem
Niemand ist hier
außer dein eigener Schatten
dem du niemals entkommst
egal, was du tust
Bleibe im Dunkeln
– und du erfrierst
schreite hinaus
wage den Schritt ins Licht
- und du verbrennst
Nirgends ein Grund
auf dem du stehst:
wabernde Ränder
flatternde Fransen
Stufen und Treppen
nachgiebig, transparent
und weich wie Quallen
alles aus leblosem Fleisch
Papier und mürbem Gestein
wo du auch bist
zwischen Schatten und Licht
Fels erweist sich
als bröckelnde Krume
Moose und Flechten
glitschige Algen
darin sich dein suchender Griff verfängt
immer den Absturz vor Augen
den tödlichen Fall
Warum nur ist alle Angst dir so fremd?
Warum kennst du statt Angst
nur Sorge um die,
welche dir nah sind?
So nah wie ein Lidschlag und doch
so fern wie dunkle Gebirge
im Dunst eines sinkenden Tags
Es ist ein Wunder
dass du nicht schreist
du, ohne Angst
lächelst auch noch
verlegen hinein in alle Gestirne
So also ist das
Weil du dir denkst
solange dein Herz schlägt
pulsiert auch das All
ohne Rückhalt, ohne Gewähr
mitten in aller Haltlosigkeit
verlässlich und stet
Sieh in die Höhe: kein Licht
ruf in die Tiefe: kein Ton
füge die Bilder zusammen:
Die Addition aller Farben
ist strahlendes Weiß
Und mitten darin
lässt du los
Und du bist frei
du, ohne Angst
bist endlich erlöst
mitten in strahlendem Weiß
So also ist das.
Oktober, golden
Und alles hohe Gras
wiegt sich vertrocknet, dürr und fahl
und dennoch so, als lachte es
im letzten Sonnenwind.
Und Hände, unberührt
strecken sich aus
nach völlig unbekannten Dingen
vielleicht nach Brüdern
Schwestern, Freunden und Geliebten.
Oder dem Gelb, dem Feuerrot
von irgend einem fremden Strauch
von einem Baum, der welkt,
der seine Blätter fraglos, still
zu Boden sinken lässt.
Das Blau des Himmels
scheint absurd vor allen Fragen:
Wie Kitsch, vor dem man lächelnd steht.
Und dicht vor dem Azur
wird alles Laute still
für den Moment, da Vogelschwärme ziehen.
Und Sinn, Verstand – bedeutungslos.
Mit einem Mal
sind alle Fragen
nach Tun, nach Sein und Bleiben
hinein gebettet in das lichte Gelb
des einen Ahornbaums am Weg,
der seine Blätter fraglos, still
zu Boden sinken lässt.
An Hypnos
Vater der Träume, Hypnos, ich rede zu Dir.
Wo sind Deine Versprechen, all das Verlorene,
das ich vergeblich suche in allen Winkeln der Nacht?
Ich will nicht reden von klammen, schweißnassen Kissen
auch nicht vom heillosen Rausch aller Art
noch von den dunklen Blumen und Blüten,
Blättern, die schlafen machen, fremde Essenzen,
die, einmal genossen, Dinge gebären, die niemand vergisst.
Du gabst mir Trost einst, dämmrigen Schlaf voller Geschichten,
Erholung, Genesung, aber vor allem Bilder der Nacht,
wenn in den Höhen die Sterne schweiften.
Abends, als alle Geister vergaßen, dass es mich gibt,
legte ich mich ins Bett mit dem geschundenen Herzen.
Und ich sah Dinge, die zu erzählen ich nicht vermag:
Zu tief, zu traurig, von Lust und Entsagung randvoll gefüllt
mit allem, was selten ein sterblicher Träumender sah.
Dann kam die Zeit, da Du es vorzogst, in Deinem Wahn
mich und mein Schicksal aus Deiner Obhut jäh zu entlassen.
Was nur ist mein Verbrechen, dass du so grausam bist?
Plünderer reißen mir alles nieder, das Haus und den Hof.
Die Hunde werden ans Hoftor genagelt, die Bücher verbrannt,
und ausgerissen mit Wurzeln liegen die Blumen im Garten,
während Du reglos sitzt in Deinem Heiligen Hain,
Zuschauer nur, kein Gott mehr, ein wirrer Gaffer und Narr.
Hypnos, Du träumst den Traum aller Träume.
Vergisst um des eigenen Traumes willen all Deine Gottheit.
Verlierst Dich im Dunkel, im alles verschlingenden Chaos.
Meine Nächte sind trostlos und lang, fern jeden Traumes
voller Verzweiflung, bitterer Angst und schlafloser Not,
geschlagen mit Blindheit dem Mond gegenüber und allen Gestirnen,
zitternd an Seele und Leib, mit dicken Decken noch frierend,
schaudernd unter dem ungeschminkten Antlitz der Nacht.
Hypnos: Erwache aus Deinem schädlichen Traum!
Gib mir das Leben zurück, das meinen Schlaf einst
machte zu dem, was er war. Gib mir die Träume zurück!
copyright: Rainer Bendt
Austern essen
Deine Finger strichen nur kurz
über die schartige Schale
das Austernmesser mit kurzem Blatt
hast du angesetzt
in der winzigen Furche am Rand
Die Schalen auseinander-
gebrochen
mit leichter Hand
kennerhaft am zarten blassen
empfindlichen Fleisch gerochen
Ob es auch gut ist.
Die Seele von Wind und von Meer....
Zitrone? Nein danke!
Gourmets genießen die Auster pur.
Und mit der Zunge langst du
mitten hinein ins salzige weiche Gekröse.
Schlürfend, weil es sich so bei Austern gehört,
saugst du das Herz und das andere
in deinen Mund.
Im unerbittlichen Blau
des Himmels über dem Hafen
kreisen und kreischen die Möwen.
Vollkommen ausgelutscht
bis auf die weißen, inneren Wände
wiegst du einen Moment lang die leeren Schalen
in deiner Hand --
Dann wirfst du sie
„Ach, das war gut“ auf den Lippen
achtlos zu Boden.
Unter den Tritten derer, die nach dir kamen
zerbrachen
die Hälften der schartigen Schalen alsbald.
Wie gut nur, dass du nicht mit mir
Austern essen gegangen bist.
Der Spiegel
Da stehst du nun. Und um Dich Stille, gefährlich ungewohnt.
Der Autolärm, der Dauerton der Rasenmäher und selbst der Vogelschrei
sind abgestellt – wohin, warum auch immer. Das Tageslicht nimmt ab
und nur der alte Spiegel hier in diesem Haus, darin es modert
wie vor Jahren, wirft Licht dir zu inmitten abgeplatzter, schwarzer Flecken.
Wozu taugt dieses alte Ding, das lange sinnlos hing mit seinem Rücken
dorthin zur Wand, nach hinten blind und stumm und taub
nach vorn jetzt klar, mit Brüchen zwar, da du den Staub
mit bloßen Händen abgewischt hast und dein Taschentuch
zur Hilfe nahmst. Das Glas anhauchtest wie einst Gott den Lehm.
Einstweilen wird kein neuer Mensch entstehen. Es sei denn, du
lässt los von dem, was war, was ist, was kommt. Dich einfach
fallen lässt und Rückschau hältst in diesem letzten Licht des Tags,
der sinkt. Reflexion, Interferenz im fahlen Licht des Spiegels,
dem die Beschichtung aus Metall vom Rücken fällt und schwarze Löcher lässt.
Da stehst du nun, mit Stoppeln, die fahl aus der Gesichtshaut ragen,
seltsam vergrößert, dornengleich - und du erstarrst.
Wo ist das alles hin, was war? Suchst du noch immer dunkle Ecken
und stille Nischen, seit Jahren unbewohnte Viertel, wohin du fliehen kannst?
Deine Erinnerung an alle Höhen, Tiefen erscheint dir jetzt geronnen,
Anstatt von Blut nimmt immer noch ein dunkler Saft den zähen Lauf durch deine Adern,
wie eingekocht und kondensiert zu einer Masse und schwärzer noch als jeder Schmutz.
Es ist nun Zeit, dir selber ins Gesicht zu schauen. Kehr heim zu dir,
Nimm alles an, was war, damit du es für immer jetzt mir dir versöhnst.
Und was dich viel zu lang vom Leben trennte: die faulige Membran musst du durchstoßen.
Dann wirst du zwischen dunklen, abgeplatzten Flecken im Glas des Spiegels
blaue Venen sehen, und Haut, aus der das Bleiche weicht, auch unergrautes Haar,
Arterien mit Menschenblut gefüllt und rote Äderchen in deinen lichtentwöhnten Augen,
vielleicht ein Lächeln, ohne Gram, wie durch ein Wunder eingeschmiegt
in deinen Blick, in dem du nie zuhause warst, der alles sah - nur nie sich selbst.
Einer vom Fach
Er hat stets einen Zirkel dabei
mit dem er sich
eingebildeten Schmutz
unter den Nägeln entfernt
Er hält nichts von Poesie
Geometrie ist sein Fach
Lektorenträume ersetzt er
spielend durch Vektorräume
Er ist ein Mann
mit Ecken und Kanten
Sekanten, Tangenten
lebt im euklidischen Raum
Doch lädt er mich ein
In seine Kreise
und sagt: dort geht’s rund
bis in den letzten Winkel.
Geologie der Poeten
Glutheiß-flüssige Magma
zu Tage getreten
jetzt fest gefügt
Wortmuster dicht an dicht
wie Basaltsäulen
An versandeten Ufern
mäandernden Lebens
winzige Körnchen aus Gold
und Nuggets im Schürfsieb
der Dichter
Feuerstein trifft auf Pyrit:
wir schlagen Verse
wie Funken aus uns heraus
Unter Tage graben wir
nach dem fossilem Brennstoff:
anthrazitener Wortglanz
Energie aus Licht für Poeme
Verdichtet aus tausenden
Tonnen von Kohle
schlummern Rohdiamanten
ganz tief im Innern
in uns, wartend auf Bergung.
Aufbruch
Ich packe meine alten Sachen
und schicke sie per Post zurück
an die Adresse: unbekannt.
Ich habe den Himmel, das Licht im Blick
seit wir uns trafen.
Zwölf auf der Stirn zeigt die Uhr
an transparenter Zukunftswand
in unserem Morgenhafen.
Hier kann ich mit dir nur
lebendig erwachen.
Entrümplung
Mürbe Mauern, feucht, verwaist,
Kälte nistet in den Wänden.
Dinge liegen hier und dort
ohne Sinn und längst vergessen.
Und im Netz die Spinne kreist.
Gegenstände, staubbedeckt,
namenlos in deinen Händen -
Traurigkeit füllt diesen Ort.
Und du kannst es nicht ermessen,
wie weit sich der Tod erstreckt.
Was an deiner Seele reißt,
alles das wird sehr bald enden:
Du räumst so die Dinge fort,
die von deinem Herzen fressen.
Nur im Netz die Spinne kreist.
Medusa
Eine zerknüllte Plastiktüte von einem Discounter
Hab ich aus Leipzig mitgebracht
Darin eine Kachel gewickelt,
Die hab ich gefunden auf einem Gelände -
Medusa.
Auf einem Grundstück, wo Häuser standen
Gründerzeit, runtergekommen, marode
Der Platz voller Schutt ist nun gut
Für einen neuen Discounter,
Medusa.
Dein Gesicht blickt mich an,
Mit aufgerissenen Augen,
Der Mund aus Emaille verzerrt und so schön!
Nicht mehr verkachelt, die Schlangen im Haar,
Medusa:
Die Schlangen sind wieder lebendig,
Sie zischen und gieren und scheren
Sich nicht um Ruinen, nicht um Geschichte.
Was zählt, ist Rendite,
Medusa.
Auf Portugisisch zu sprechen
Hätte ich einen Wunsch frei
wäre es der
dass ich die portugiesische Sprache
beherrschte
so könnte ich dann
die Kommentare
auf alten Seefahrerkarten
entziffern
ich könnte
Pessoas Sätzen
im Original
nachspüren -
aber vor allem
könnte ich dann
Rosa Marias Stimme
in ihrer Muttersprache
fühlen, verstehen
ich könnte mit ihr
reden über das Leben
und über uns
so wie das Wasser hinabließt
den Tejo.
Unzeitgemäßer Frühlingsspaziergang in Distichen*
Ist es die Luft? Oder der Atem erwachter Natur?
Oder veränderter Klang allenthalben, Stimmen
Von singenden Vögeln und Farben? Tage wie Samt und voll Licht.
Auch ich bin erwacht. Fühle den sprudelnden Strom
Längst vergangener Stimmen, die mich einst riefen mit Macht.
Ich blase den Staub von den Büchern und lasse die alten
Dichter heraus. Novalis ruft und Hölderlin drängt.
Goethe und Schiller machen sich auf zum Spaziergang.
Sie nehmen mich mit. „Sentimentalität“, sagen sie,
„Nennen heutige Menschen das, was wir früher
Empfindsamkeit nannten. Also lasse Er bitte nicht nach
Weiter unzeitgemäße Poeme zu schmieden.“
*(Anmerkung: Das Distichon ist ein Doppelvers, der aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht.)
An den Gott der Christen
Kein stilles Flüstern trägt der Wald
Mehr in dies fremde Haus.
Kein Licht brennt unbedacht.
Die Welt ist kalt.
Und DU wirst ausgelacht:
Auf ihrem eigenen Altar
Bringt sich die Welt
Gold, Weihrauch, Myrrhe dar -
Oh kalte Nacht.
Gefälschte Welt
(dargeboten in einer gefälschten Form von Hexametern)
Samtene, schmeichelnde Welt, auf die du dein Haupt bettest,
Nacht für Nacht! Fantastischer Spiegel
der nur das von dir spiegelt im Netz, was du gern willst!
Ginge denn jemand dein wirkliches Leben was an?
Nur in dem Spiegel kannst du dich schminken, und Bilder von dir hinterlassen
Welche dich zeigen, wie du dich willst, im besten Fall aller Fälle.
Der gibst dir das, was dir ansonsten das Leben versagt.
Der gibt dir Hoffnung auf Liebe, Anerkennung und Akzeptanz.
Und alle buhlen um dich und dein Bild,
das du von dir hier eingestellt hast. Seltsame Welt!
Sie schauen und gaffen, heischen nach dir und schreiben dich an
ohne wirklich zu wissen, wer du denn bist.
Sie wollen dich haben, wollen dich sehen, du bist ihre Ikone.
Das Bild funktioniert. Du hast es erschaffen, du freust dich daran,
bis dich die Wahrheit des Lebens wieder erreicht,
bis du abermals strauchelst und fällst im wirklichen Leben -
wo niemand ist, der dir die Hand reicht und dich umarmt,
der dir die Küche macht oder die Wäsche,
die du verbannt hast ins hinterste Zimmer
deiner gefälschten Welt.
Viel zu spät
Wenn alles zu spät ist,
ist meist alles zu viel.
Bei meinen Leisten blieb ich nicht.
Ich bin ja kein Schuster.
Warnungen schlug ich weit in den Wind.
Jetzt schlägt das Leben zurück.
Ich nehme das mit. Das nimmt mich mit.
Ich war ja so überheblich
habe ich mich überhoben
noch knacken die Knochen.
Sie brechen zwar nicht
aber ich könnte kotzen vor Schmerz.
Wenn alles zu viel ist,
ist es meistens zu spät.
Der Geruch der Morchel
Im Nebel am Morgen
am fauligen Graben
worin das Wasser gesättigt ist
mit Abfall in allen Farben
steht eine Morchel im schimmligen Gras
wetteifernd mit bleierner Brühe
um einen Gestank, der den Atem nimmt,
herb und süßlich zugleich
Geruch, der Neugier erweckt
die Galle in Wallung versetzt.
Auf der Parkbank daneben
füttert ein Rentner mit altem Brot
überfettete Enten
im Nebel am Morgen.
Strahlendes Weiß
So also ist das:
wenn dich die Fliehkraft des Lebens
bis an die äußersten Grenzen
hinaus katapultiert
dort hin, an die zerfaserten Ränder
wo dein eigener Herzschlag
nichts weiter ist
als ein Echo
von etwas gänzlich Fremdem
Niemand ist hier
außer dein eigener Schatten
dem du niemals entkommst
egal, was du tust
Bleibe im Dunkeln
– und du erfrierst
schreite hinaus
wage den Schritt ins Licht
- und du verbrennst
Nirgends ein Grund
auf dem du stehst:
wabernde Ränder
flatternde Fransen
Stufen und Treppen
nachgiebig, transparent
und weich wie Quallen
alles aus leblosem Fleisch
Papier und mürbem Gestein
wo du auch bist
zwischen Schatten und Licht
Fels erweist sich
als bröckelnde Krume
Moose und Flechten
glitschige Algen
darin sich dein suchender Griff verfängt
immer den Absturz vor Augen
den tödlichen Fall
Warum nur ist alle Angst dir so fremd?
Warum kennst du statt Angst
nur Sorge um die,
welche dir nah sind?
So nah wie ein Lidschlag und doch
so fern wie dunkle Gebirge
im Dunst eines sinkenden Tags
Es ist ein Wunder
dass du nicht schreist
du, ohne Angst
lächelst auch noch
verlegen hinein in alle Gestirne
So also ist das
Weil du dir denkst
solange dein Herz schlägt
pulsiert auch das All
ohne Rückhalt, ohne Gewähr
mitten in aller Haltlosigkeit
verlässlich und stet
Sieh in die Höhe: kein Licht
ruf in die Tiefe: kein Ton
füge die Bilder zusammen:
Die Addition aller Farben
ist strahlendes Weiß
Und mitten darin
lässt du los
Und du bist frei
du, ohne Angst
bist endlich erlöst
mitten in strahlendem Weiß
So also ist das.
Oktober, golden
Und alles hohe Gras
wiegt sich vertrocknet, dürr und fahl
und dennoch so, als lachte es
im letzten Sonnenwind.
Und Hände, unberührt
strecken sich aus
nach völlig unbekannten Dingen
vielleicht nach Brüdern
Schwestern, Freunden und Geliebten.
Oder dem Gelb, dem Feuerrot
von irgend einem fremden Strauch
von einem Baum, der welkt,
der seine Blätter fraglos, still
zu Boden sinken lässt.
Das Blau des Himmels
scheint absurd vor allen Fragen:
Wie Kitsch, vor dem man lächelnd steht.
Und dicht vor dem Azur
wird alles Laute still
für den Moment, da Vogelschwärme ziehen.
Und Sinn, Verstand – bedeutungslos.
Mit einem Mal
sind alle Fragen
nach Tun, nach Sein und Bleiben
hinein gebettet in das lichte Gelb
des einen Ahornbaums am Weg,
der seine Blätter fraglos, still
zu Boden sinken lässt.
An Hypnos
Vater der Träume, Hypnos, ich rede zu Dir.
Wo sind Deine Versprechen, all das Verlorene,
das ich vergeblich suche in allen Winkeln der Nacht?
Ich will nicht reden von klammen, schweißnassen Kissen
auch nicht vom heillosen Rausch aller Art
noch von den dunklen Blumen und Blüten,
Blättern, die schlafen machen, fremde Essenzen,
die, einmal genossen, Dinge gebären, die niemand vergisst.
Du gabst mir Trost einst, dämmrigen Schlaf voller Geschichten,
Erholung, Genesung, aber vor allem Bilder der Nacht,
wenn in den Höhen die Sterne schweiften.
Abends, als alle Geister vergaßen, dass es mich gibt,
legte ich mich ins Bett mit dem geschundenen Herzen.
Und ich sah Dinge, die zu erzählen ich nicht vermag:
Zu tief, zu traurig, von Lust und Entsagung randvoll gefüllt
mit allem, was selten ein sterblicher Träumender sah.
Dann kam die Zeit, da Du es vorzogst, in Deinem Wahn
mich und mein Schicksal aus Deiner Obhut jäh zu entlassen.
Was nur ist mein Verbrechen, dass du so grausam bist?
Plünderer reißen mir alles nieder, das Haus und den Hof.
Die Hunde werden ans Hoftor genagelt, die Bücher verbrannt,
und ausgerissen mit Wurzeln liegen die Blumen im Garten,
während Du reglos sitzt in Deinem Heiligen Hain,
Zuschauer nur, kein Gott mehr, ein wirrer Gaffer und Narr.
Hypnos, Du träumst den Traum aller Träume.
Vergisst um des eigenen Traumes willen all Deine Gottheit.
Verlierst Dich im Dunkel, im alles verschlingenden Chaos.
Meine Nächte sind trostlos und lang, fern jeden Traumes
voller Verzweiflung, bitterer Angst und schlafloser Not,
geschlagen mit Blindheit dem Mond gegenüber und allen Gestirnen,
zitternd an Seele und Leib, mit dicken Decken noch frierend,
schaudernd unter dem ungeschminkten Antlitz der Nacht.
Hypnos: Erwache aus Deinem schädlichen Traum!
Gib mir das Leben zurück, das meinen Schlaf einst
machte zu dem, was er war. Gib mir die Träume zurück!
copyright: Rainer Bendt