Lyrik I

 

Austern essen

 

Deine Finger strichen nur kurz

über die schartige Schale

das Austernmesser mit kurzem Blatt

hast du angesetzt

in der winzigen Furche am Rand

Die Schalen auseinander-

gebrochen

mit leichter Hand

kennerhaft am zarten blassen

empfindlichen Fleisch gerochen

Ob es auch gut ist.

 

Die Seele von Wind und von Meer....

 

Zitrone? Nein danke!

Gourmets genießen die Auster pur.

Und mit der Zunge langst du

mitten hinein ins salzige weiche Gekröse.

Schlürfend, weil es sich so bei Austern gehört,

saugst du das Herz und das andere

in deinen Mund.

 

Im unerbittlichen Blau

des Himmels über dem Hafen

kreisen und kreischen die Möwen.

 

Vollkommen ausgelutscht

bis auf die weißen, inneren Wände

wiegst du einen Moment lang die leeren Schalen

in deiner Hand --

 

Dann wirfst du sie

Ach, das war gut“ auf den Lippen

achtlos zu Boden.

Unter den Tritten derer, die nach dir kamen

zerbrachen

die Hälften der schartigen Schalen alsbald.

 

Wie gut nur, dass du nicht mit mir

Austern essen gegangen bist.

 

 

 

Der Spiegel

 

Da stehst du nun. Und um Dich Stille, gefährlich ungewohnt.

Der Autolärm, der Dauerton der Rasenmäher und selbst der Vogelschrei

sind abgestellt – wohin, warum auch immer. Das Tageslicht nimmt ab

und nur der alte Spiegel hier in diesem Haus, darin es modert

wie vor Jahren, wirft Licht dir zu inmitten abgeplatzter, schwarzer Flecken.

 

Wozu taugt dieses alte Ding, das lange sinnlos hing mit seinem Rücken

dorthin zur Wand, nach hinten blind und stumm und taub

nach vorn jetzt klar, mit Brüchen zwar, da du den Staub

mit bloßen Händen abgewischt hast und dein Taschentuch

zur Hilfe nahmst. Das Glas anhauchtest wie einst Gott den Lehm.

 

Einstweilen wird kein neuer Mensch entstehen. Es sei denn, du

lässt los von dem, was war, was ist, was kommt. Dich einfach

fallen lässt und Rückschau hältst in diesem letzten Licht des Tags,

der sinkt. Reflexion, Interferenz im fahlen Licht des Spiegels,

dem die Beschichtung aus Metall vom Rücken fällt und schwarze Löcher lässt.

 

Da stehst du nun, mit Stoppeln, die fahl aus der Gesichtshaut ragen,

seltsam vergrößert, dornengleich - und du erstarrst.

Wo ist das alles hin, was war? Suchst du noch immer dunkle Ecken

und stille Nischen, seit Jahren unbewohnte Viertel, wohin du fliehen kannst?

Deine Erinnerung an alle Höhen, Tiefen erscheint dir jetzt geronnen,

 

Anstatt von Blut nimmt immer noch ein dunkler Saft den zähen Lauf durch deine Adern,

wie eingekocht und kondensiert zu einer Masse und schwärzer noch als jeder Schmutz.

Es ist nun Zeit, dir selber ins Gesicht zu schauen. Kehr heim zu dir,

Nimm alles an, was war, damit du es für immer jetzt mir dir versöhnst.

Und was dich viel zu lang vom Leben trennte: die faulige Membran musst du durchstoßen.

 

Dann wirst du zwischen dunklen, abgeplatzten Flecken im Glas des Spiegels

blaue Venen sehen, und Haut, aus der das Bleiche weicht, auch unergrautes Haar,

Arterien mit Menschenblut gefüllt und rote Äderchen in deinen lichtentwöhnten Augen,

vielleicht ein Lächeln, ohne Gram, wie durch ein Wunder eingeschmiegt 

in deinen Blick, in dem du nie zuhause warst, der alles sah - nur nie sich selbst.

 

 

 

Einer vom Fach

 

Er hat stets einen Zirkel dabei

mit dem er sich

eingebildeten Schmutz

unter den Nägeln entfernt

 

Er hält nichts von Poesie

Geometrie ist sein Fach

Lektorenträume ersetzt er

spielend durch Vektorräume

 

Er ist ein Mann

mit Ecken und Kanten

Sekanten, Tangenten

lebt im euklidischen Raum

 

Doch lädt er mich ein

In seine Kreise

und sagt: dort geht’s rund

bis in den letzten Winkel.

 

 

 

Geologie der Poeten

 

Glutheiß-flüssige Magma

zu Tage getreten

jetzt fest gefügt

Wortmuster dicht an dicht

wie Basaltsäulen

 

An versandeten Ufern

mäandernden Lebens

winzige Körnchen aus Gold

und Nuggets im Schürfsieb

der Dichter

 

Feuerstein trifft auf Pyrit:

wir schlagen Verse

wie Funken aus uns heraus

 

Unter Tage graben wir

nach dem fossilem Brennstoff:

anthrazitener Wortglanz

Energie aus Licht für Poeme

 

Verdichtet aus tausenden

Tonnen von Kohle

schlummern Rohdiamanten

ganz tief im Innern

in uns, wartend auf Bergung.

 

 

 

Aufbruch 

 

Ich packe meine alten Sachen

und schicke sie per Post zurück

an die Adresse: unbekannt.

Ich habe den Himmel, das Licht im Blick

seit wir uns trafen.

 

 

Zwölf auf der Stirn zeigt die Uhr

an transparenter Zukunftswand

in unserem Morgenhafen.

Hier kann ich mit dir nur

lebendig erwachen.

 

 

Entrümplung

 

Mürbe Mauern, feucht, verwaist,

Kälte nistet in den Wänden.

Dinge liegen hier und dort

ohne Sinn und längst vergessen.

Und im Netz die Spinne kreist.

 

Gegenstände, staubbedeckt,

namenlos in deinen Händen -

Traurigkeit füllt diesen Ort.

Und du kannst es nicht ermessen,

wie weit sich der Tod erstreckt.

 

Was an deiner Seele reißt,

alles das wird sehr bald enden:

Du räumst so die Dinge fort,

die von deinem Herzen fressen.

Nur im Netz die Spinne kreist.

 

 

 

 

Medusa

 

Eine zerknüllte Plastiktüte von einem Discounter

Hab ich aus Leipzig mitgebracht

Darin eine Kachel gewickelt,

Die hab ich gefunden auf einem Gelände -

 

Medusa.

 

Auf einem Grundstück, wo Häuser standen

Gründerzeit, runtergekommen, marode

Der Platz voller Schutt ist nun gut

Für einen neuen Discounter,

 

Medusa.

 

Dein Gesicht blickt mich an,

Mit aufgerissenen Augen,

Der Mund aus Emaille verzerrt und so schön!

Nicht mehr verkachelt, die Schlangen im Haar,

 

Medusa:

 

Die Schlangen sind wieder lebendig,

Sie zischen und gieren und scheren

Sich nicht um Ruinen, nicht um Geschichte.

Was zählt, ist Rendite,

 

Medusa.

 

 

 

Auf Portugisisch zu sprechen

 

Hätte ich einen Wunsch frei

wäre es der

dass ich die portugiesische Sprache

beherrschte

so könnte ich dann

die Kommentare

auf alten Seefahrerkarten

entziffern

ich könnte

Pessoas Sätzen

im Original

nachspüren -

aber vor allem

könnte ich dann

Rosa Marias Stimme

in ihrer Muttersprache

fühlen, verstehen

ich könnte mit ihr

reden über das Leben

und über uns

so wie das Wasser hinabließt

den Tejo.

 

 

 

Unzeitgemäßer Frühlingsspaziergang in Distichen*

 

 

Ist es die Luft? Oder der Atem erwachter Natur?

Oder veränderter Klang allenthalben, Stimmen

 

Von singenden Vögeln und Farben? Tage wie Samt und voll Licht.

Auch ich bin erwacht. Fühle den sprudelnden Strom

 

Längst vergangener Stimmen, die mich einst riefen mit Macht.

Ich blase den Staub von den Büchern und lasse die alten

 

Dichter heraus. Novalis ruft und Hölderlin drängt.

Goethe und Schiller machen sich auf zum Spaziergang.

 

Sie nehmen mich mit. „Sentimentalität“, sagen sie,

Nennen heutige Menschen das, was wir früher

 

Empfindsamkeit nannten. Also lasse Er bitte nicht nach

Weiter unzeitgemäße Poeme zu schmieden.“

 

 

*(Anmerkung: Das Distichon ist ein Doppelvers, der aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht.)

 

 

 

An den Gott der Christen

 

Kein stilles Flüstern trägt der Wald

Mehr in dies fremde Haus.

Kein Licht brennt unbedacht.

Die Welt ist kalt.

 

Und DU wirst ausgelacht:

Auf ihrem eigenen Altar

Bringt sich die Welt

Gold, Weihrauch, Myrrhe dar -

Oh kalte Nacht.

 

 

 

Gefälschte Welt

(dargeboten in einer gefälschten Form von Hexametern)

 

 

Samtene, schmeichelnde Welt, auf die du dein Haupt bettest,

Nacht für Nacht! Fantastischer Spiegel

der nur das von dir spiegelt im Netz, was du gern willst!

Ginge denn jemand dein wirkliches Leben was an?

Nur in dem Spiegel kannst du dich schminken, und Bilder von dir hinterlassen

Welche dich zeigen, wie du dich willst, im besten Fall aller Fälle.

Der gibst dir das, was dir ansonsten das Leben versagt.

Der gibt dir Hoffnung auf Liebe, Anerkennung und Akzeptanz.

Und alle buhlen um dich und dein Bild,

das du von dir hier eingestellt hast. Seltsame Welt!

Sie schauen und gaffen, heischen nach dir und schreiben dich an

ohne wirklich zu wissen, wer du denn bist.

Sie wollen dich haben, wollen dich sehen, du bist ihre Ikone.

Das Bild funktioniert. Du hast es erschaffen, du freust dich daran,

bis dich die Wahrheit des Lebens wieder erreicht,

bis du abermals strauchelst und fällst im wirklichen Leben -

wo niemand ist, der dir die Hand reicht und dich umarmt,

der dir die Küche macht oder die Wäsche,

die du verbannt hast ins hinterste Zimmer

deiner gefälschten Welt.

 

 

 

Viel zu spät

 

Wenn alles zu spät ist,

ist meist alles zu viel.

 

Bei meinen Leisten blieb ich nicht.

Ich bin ja kein Schuster.

Warnungen schlug ich weit in den Wind.

Jetzt schlägt das Leben zurück.

Ich nehme das mit. Das nimmt mich mit.

 

Ich war ja so überheblich

habe ich mich überhoben

noch knacken die Knochen.

Sie brechen zwar nicht

aber ich könnte kotzen vor Schmerz.

 

Wenn alles zu viel ist,

ist es meistens zu spät.

 

 

 

 

 

Der Geruch der Morchel

 

Im Nebel am Morgen

am fauligen Graben

worin das Wasser gesättigt ist

mit Abfall in allen Farben

steht eine Morchel im schimmligen Gras

wetteifernd mit bleierner Brühe

um einen Gestank, der den Atem nimmt,

 

herb und süßlich zugleich

Geruch, der Neugier erweckt

die Galle in Wallung versetzt.

Auf der Parkbank daneben

füttert ein Rentner mit altem Brot

überfettete Enten

im Nebel am Morgen.

 

 

 

 

 

Strahlendes Weiß

 

So also ist das:

 

wenn dich die Fliehkraft des Lebens

bis an die äußersten Grenzen

hinaus katapultiert

dort hin, an die zerfaserten Ränder

 

wo dein eigener Herzschlag

nichts weiter ist

als ein Echo

von etwas gänzlich Fremdem

 

Niemand ist hier

außer dein eigener Schatten

dem du niemals entkommst

egal, was du tust

 

Bleibe im Dunkeln

und du erfrierst

schreite hinaus

wage den Schritt ins Licht

- und du verbrennst

 

Nirgends ein Grund

auf dem du stehst:

wabernde Ränder

flatternde Fransen

Stufen und Treppen

 

nachgiebig, transparent

und weich wie Quallen

alles aus leblosem Fleisch

Papier und mürbem Gestein

wo du auch bist

zwischen Schatten und Licht

 

Fels erweist sich

als bröckelnde Krume

Moose und Flechten

glitschige Algen

darin sich dein suchender Griff verfängt

immer den Absturz vor Augen

den tödlichen Fall

 

Warum nur ist alle Angst dir so fremd?

Warum kennst du statt Angst

nur Sorge um die,

welche dir nah sind?

So nah wie ein Lidschlag und doch

so fern wie dunkle Gebirge

im Dunst eines sinkenden Tags

 

Es ist ein Wunder

dass du nicht schreist

du, ohne Angst

lächelst auch noch

verlegen hinein in alle Gestirne

So also ist das

 

Weil du dir denkst

solange dein Herz schlägt

pulsiert auch das All

ohne Rückhalt, ohne Gewähr

mitten in aller Haltlosigkeit

verlässlich und stet

 

Sieh in die Höhe: kein Licht

ruf in die Tiefe: kein Ton

füge die Bilder zusammen:

Die Addition aller Farben

ist strahlendes Weiß

 

Und mitten darin

lässt du los

Und du bist frei

du, ohne Angst

bist endlich erlöst

mitten in strahlendem Weiß

 

So also ist das.

  

 

 

 

 

Oktober, golden

 

Und alles hohe Gras

wiegt sich vertrocknet, dürr und fahl

und dennoch so, als lachte es

im letzten Sonnenwind.

 

Und Hände, unberührt

strecken sich aus

nach völlig unbekannten Dingen

vielleicht nach Brüdern

 

Schwestern, Freunden und Geliebten.

Oder dem Gelb, dem Feuerrot

von irgend einem fremden Strauch

von einem Baum, der welkt,

 

der seine Blätter fraglos, still

zu Boden sinken lässt.

 

Das Blau des Himmels

scheint absurd vor allen Fragen:

Wie Kitsch, vor dem man lächelnd steht.

Und dicht vor dem Azur

 

wird alles Laute still

für den Moment, da Vogelschwärme ziehen.

Und Sinn, Verstand – bedeutungslos.

Mit einem Mal

 

sind alle Fragen

nach Tun, nach Sein und Bleiben

hinein gebettet in das lichte Gelb

des einen Ahornbaums am Weg,

 

der seine Blätter fraglos, still

zu Boden sinken lässt.

 

 

An Hypnos

 

Vater der Träume, Hypnos, ich rede zu Dir.

Wo sind Deine Versprechen, all das Verlorene,

das ich vergeblich suche in allen Winkeln der Nacht? 

 

Ich will nicht reden von klammen, schweißnassen Kissen

auch nicht vom heillosen Rausch aller Art

noch von den dunklen Blumen und Blüten,

Blättern, die schlafen machen, fremde Essenzen,

die, einmal genossen, Dinge gebären, die niemand vergisst.

 

Du gabst mir Trost einst, dämmrigen Schlaf voller Geschichten,

Erholung, Genesung, aber vor allem Bilder der Nacht,

wenn in den Höhen die Sterne schweiften.

 

Abends, als alle Geister vergaßen, dass es mich gibt,

legte ich mich ins Bett mit dem geschundenen Herzen.

Und ich sah Dinge, die zu erzählen ich nicht vermag:

Zu tief, zu traurig, von Lust und Entsagung randvoll gefüllt

mit allem, was selten ein sterblicher Träumender sah.

 

Dann kam die Zeit, da Du es vorzogst, in Deinem Wahn

mich und mein Schicksal aus Deiner Obhut jäh zu entlassen.

Was nur ist mein Verbrechen, dass du so grausam bist?

 

Plünderer reißen mir alles nieder, das Haus und den Hof.

Die Hunde werden ans Hoftor genagelt, die Bücher verbrannt,

und ausgerissen mit Wurzeln liegen die Blumen im Garten,

während Du reglos sitzt in Deinem Heiligen Hain,

Zuschauer nur, kein Gott mehr, ein wirrer Gaffer und Narr.

 

Hypnos, Du träumst den Traum aller Träume.

Vergisst um des eigenen Traumes willen all Deine Gottheit.

Verlierst Dich im Dunkel, im alles verschlingenden Chaos.

 

Meine Nächte sind trostlos und lang, fern jeden Traumes

voller Verzweiflung, bitterer Angst und schlafloser Not,

geschlagen mit Blindheit dem Mond gegenüber und allen Gestirnen,

zitternd an Seele und Leib, mit dicken Decken noch frierend,

schaudernd unter dem ungeschminkten Antlitz der Nacht.

 

Hypnos: Erwache aus Deinem schädlichen Traum!

Gib mir das Leben zurück, das meinen Schlaf einst 

machte zu dem, was er war. Gib mir die Träume zurück!

 

 

 

copyright: Rainer Bendt

 

Austern essen

 

Deine Finger strichen nur kurz

über die schartige Schale

das Austernmesser mit kurzem Blatt

hast du angesetzt

in der winzigen Furche am Rand

Die Schalen auseinander-

gebrochen

mit leichter Hand

kennerhaft am zarten blassen

empfindlichen Fleisch gerochen

Ob es auch gut ist.

 

Die Seele von Wind und von Meer....

 

Zitrone? Nein danke!

Gourmets genießen die Auster pur.

Und mit der Zunge langst du

mitten hinein ins salzige weiche Gekröse.

Schlürfend, weil es sich so bei Austern gehört,

saugst du das Herz und das andere

in deinen Mund.

 

Im unerbittlichen Blau

des Himmels über dem Hafen

kreisen und kreischen die Möwen.

 

Vollkommen ausgelutscht

bis auf die weißen, inneren Wände

wiegst du einen Moment lang die leeren Schalen

in deiner Hand --

 

Dann wirfst du sie

Ach, das war gut“ auf den Lippen

achtlos zu Boden.

Unter den Tritten derer, die nach dir kamen

zerbrachen

die Hälften der schartigen Schalen alsbald.

 

Wie gut nur, dass du nicht mit mir

Austern essen gegangen bist.

 

 

 

Der Spiegel

 

Da stehst du nun. Und um Dich Stille, gefährlich ungewohnt.

Der Autolärm, der Dauerton der Rasenmäher und selbst der Vogelschrei

sind abgestellt – wohin, warum auch immer. Das Tageslicht nimmt ab

und nur der alte Spiegel hier in diesem Haus, darin es modert

wie vor Jahren, wirft Licht dir zu inmitten abgeplatzter, schwarzer Flecken.

 

Wozu taugt dieses alte Ding, das lange sinnlos hing mit seinem Rücken

dorthin zur Wand, nach hinten blind und stumm und taub

nach vorn jetzt klar, mit Brüchen zwar, da du den Staub

mit bloßen Händen abgewischt hast und dein Taschentuch

zur Hilfe nahmst. Das Glas anhauchtest wie einst Gott den Lehm.

 

Einstweilen wird kein neuer Mensch entstehen. Es sei denn, du

lässt los von dem, was war, was ist, was kommt. Dich einfach

fallen lässt und Rückschau hältst in diesem letzten Licht des Tags,

der sinkt. Reflexion, Interferenz im fahlen Licht des Spiegels,

dem die Beschichtung aus Metall vom Rücken fällt und schwarze Löcher lässt.

 

Da stehst du nun, mit Stoppeln, die fahl aus der Gesichtshaut ragen,

seltsam vergrößert, dornengleich - und du erstarrst.

Wo ist das alles hin, was war? Suchst du noch immer dunkle Ecken

und stille Nischen, seit Jahren unbewohnte Viertel, wohin du fliehen kannst?

Deine Erinnerung an alle Höhen, Tiefen erscheint dir jetzt geronnen,

 

Anstatt von Blut nimmt immer noch ein dunkler Saft den zähen Lauf durch deine Adern,

wie eingekocht und kondensiert zu einer Masse und schwärzer noch als jeder Schmutz.

Es ist nun Zeit, dir selber ins Gesicht zu schauen. Kehr heim zu dir,

Nimm alles an, was war, damit du es für immer jetzt mir dir versöhnst.

Und was dich viel zu lang vom Leben trennte: die faulige Membran musst du durchstoßen.

 

Dann wirst du zwischen dunklen, abgeplatzten Flecken im Glas des Spiegels

blaue Venen sehen, und Haut, aus der das Bleiche weicht, auch unergrautes Haar,

Arterien mit Menschenblut gefüllt und rote Äderchen in deinen lichtentwöhnten Augen,

vielleicht ein Lächeln, ohne Gram, wie durch ein Wunder eingeschmiegt 

in deinen Blick, in dem du nie zuhause warst, der alles sah - nur nie sich selbst.

 

 

 

Einer vom Fach

 

Er hat stets einen Zirkel dabei

mit dem er sich

eingebildeten Schmutz

unter den Nägeln entfernt

 

Er hält nichts von Poesie

Geometrie ist sein Fach

Lektorenträume ersetzt er

spielend durch Vektorräume

 

Er ist ein Mann

mit Ecken und Kanten

Sekanten, Tangenten

lebt im euklidischen Raum

 

Doch lädt er mich ein

In seine Kreise

und sagt: dort geht’s rund

bis in den letzten Winkel.

 

 

 

Geologie der Poeten

 

Glutheiß-flüssige Magma

zu Tage getreten

jetzt fest gefügt

Wortmuster dicht an dicht

wie Basaltsäulen

 

An versandeten Ufern

mäandernden Lebens

winzige Körnchen aus Gold

und Nuggets im Schürfsieb

der Dichter

 

Feuerstein trifft auf Pyrit:

wir schlagen Verse

wie Funken aus uns heraus

 

Unter Tage graben wir

nach dem fossilem Brennstoff:

anthrazitener Wortglanz

Energie aus Licht für Poeme

 

Verdichtet aus tausenden

Tonnen von Kohle

schlummern Rohdiamanten

ganz tief im Innern

in uns, wartend auf Bergung.

 

 

 

Aufbruch 

 

Ich packe meine alten Sachen

und schicke sie per Post zurück

an die Adresse: unbekannt.

Ich habe den Himmel, das Licht im Blick

seit wir uns trafen.

 

 

Zwölf auf der Stirn zeigt die Uhr

an transparenter Zukunftswand

in unserem Morgenhafen.

Hier kann ich mit dir nur

lebendig erwachen.

 

 

Entrümplung

 

Mürbe Mauern, feucht, verwaist,

Kälte nistet in den Wänden.

Dinge liegen hier und dort

ohne Sinn und längst vergessen.

Und im Netz die Spinne kreist.

 

Gegenstände, staubbedeckt,

namenlos in deinen Händen -

Traurigkeit füllt diesen Ort.

Und du kannst es nicht ermessen,

wie weit sich der Tod erstreckt.

 

Was an deiner Seele reißt,

alles das wird sehr bald enden:

Du räumst so die Dinge fort,

die von deinem Herzen fressen.

Nur im Netz die Spinne kreist.

 

 

 

 

Medusa

 

Eine zerknüllte Plastiktüte von einem Discounter

Hab ich aus Leipzig mitgebracht

Darin eine Kachel gewickelt,

Die hab ich gefunden auf einem Gelände -

 

Medusa.

 

Auf einem Grundstück, wo Häuser standen

Gründerzeit, runtergekommen, marode

Der Platz voller Schutt ist nun gut

Für einen neuen Discounter,

 

Medusa.

 

Dein Gesicht blickt mich an,

Mit aufgerissenen Augen,

Der Mund aus Emaille verzerrt und so schön!

Nicht mehr verkachelt, die Schlangen im Haar,

 

Medusa:

 

Die Schlangen sind wieder lebendig,

Sie zischen und gieren und scheren

Sich nicht um Ruinen, nicht um Geschichte.

Was zählt, ist Rendite,

 

Medusa.

 

 

 

Auf Portugisisch zu sprechen

 

Hätte ich einen Wunsch frei

wäre es der

dass ich die portugiesische Sprache

beherrschte

so könnte ich dann

die Kommentare

auf alten Seefahrerkarten

entziffern

ich könnte

Pessoas Sätzen

im Original

nachspüren -

aber vor allem

könnte ich dann

Rosa Marias Stimme

in ihrer Muttersprache

fühlen, verstehen

ich könnte mit ihr

reden über das Leben

und über uns

so wie das Wasser hinabließt

den Tejo.

 

 

 

Unzeitgemäßer Frühlingsspaziergang in Distichen*

 

 

Ist es die Luft? Oder der Atem erwachter Natur?

Oder veränderter Klang allenthalben, Stimmen

 

Von singenden Vögeln und Farben? Tage wie Samt und voll Licht.

Auch ich bin erwacht. Fühle den sprudelnden Strom

 

Längst vergangener Stimmen, die mich einst riefen mit Macht.

Ich blase den Staub von den Büchern und lasse die alten

 

Dichter heraus. Novalis ruft und Hölderlin drängt.

Goethe und Schiller machen sich auf zum Spaziergang.

 

Sie nehmen mich mit. „Sentimentalität“, sagen sie,

Nennen heutige Menschen das, was wir früher

 

Empfindsamkeit nannten. Also lasse Er bitte nicht nach

Weiter unzeitgemäße Poeme zu schmieden.“

 

 

*(Anmerkung: Das Distichon ist ein Doppelvers, der aus einem Hexameter und einem Pentameter besteht.)

 

 

 

An den Gott der Christen

 

Kein stilles Flüstern trägt der Wald

Mehr in dies fremde Haus.

Kein Licht brennt unbedacht.

Die Welt ist kalt.

 

Und DU wirst ausgelacht:

Auf ihrem eigenen Altar

Bringt sich die Welt

Gold, Weihrauch, Myrrhe dar -

Oh kalte Nacht.

 

 

 

Gefälschte Welt

(dargeboten in einer gefälschten Form von Hexametern)

 

 

Samtene, schmeichelnde Welt, auf die du dein Haupt bettest,

Nacht für Nacht! Fantastischer Spiegel

der nur das von dir spiegelt im Netz, was du gern willst!

Ginge denn jemand dein wirkliches Leben was an?

Nur in dem Spiegel kannst du dich schminken, und Bilder von dir hinterlassen

Welche dich zeigen, wie du dich willst, im besten Fall aller Fälle.

Der gibst dir das, was dir ansonsten das Leben versagt.

Der gibt dir Hoffnung auf Liebe, Anerkennung und Akzeptanz.

Und alle buhlen um dich und dein Bild,

das du von dir hier eingestellt hast. Seltsame Welt!

Sie schauen und gaffen, heischen nach dir und schreiben dich an

ohne wirklich zu wissen, wer du denn bist.

Sie wollen dich haben, wollen dich sehen, du bist ihre Ikone.

Das Bild funktioniert. Du hast es erschaffen, du freust dich daran,

bis dich die Wahrheit des Lebens wieder erreicht,

bis du abermals strauchelst und fällst im wirklichen Leben -

wo niemand ist, der dir die Hand reicht und dich umarmt,

der dir die Küche macht oder die Wäsche,

die du verbannt hast ins hinterste Zimmer

deiner gefälschten Welt.

 

 

 

Viel zu spät

 

Wenn alles zu spät ist,

ist meist alles zu viel.

 

Bei meinen Leisten blieb ich nicht.

Ich bin ja kein Schuster.

Warnungen schlug ich weit in den Wind.

Jetzt schlägt das Leben zurück.

Ich nehme das mit. Das nimmt mich mit.

 

Ich war ja so überheblich

habe ich mich überhoben

noch knacken die Knochen.

Sie brechen zwar nicht

aber ich könnte kotzen vor Schmerz.

 

Wenn alles zu viel ist,

ist es meistens zu spät.

 

 

 

 

 

Der Geruch der Morchel

 

Im Nebel am Morgen

am fauligen Graben

worin das Wasser gesättigt ist

mit Abfall in allen Farben

steht eine Morchel im schimmligen Gras

wetteifernd mit bleierner Brühe

um einen Gestank, der den Atem nimmt,

 

herb und süßlich zugleich

Geruch, der Neugier erweckt

die Galle in Wallung versetzt.

Auf der Parkbank daneben

füttert ein Rentner mit altem Brot

überfettete Enten

im Nebel am Morgen.

 

 

 

 

 

Strahlendes Weiß

 

So also ist das:

 

wenn dich die Fliehkraft des Lebens

bis an die äußersten Grenzen

hinaus katapultiert

dort hin, an die zerfaserten Ränder

 

wo dein eigener Herzschlag

nichts weiter ist

als ein Echo

von etwas gänzlich Fremdem

 

Niemand ist hier

außer dein eigener Schatten

dem du niemals entkommst

egal, was du tust

 

Bleibe im Dunkeln

und du erfrierst

schreite hinaus

wage den Schritt ins Licht

- und du verbrennst

 

Nirgends ein Grund

auf dem du stehst:

wabernde Ränder

flatternde Fransen

Stufen und Treppen

 

nachgiebig, transparent

und weich wie Quallen

alles aus leblosem Fleisch

Papier und mürbem Gestein

wo du auch bist

zwischen Schatten und Licht

 

Fels erweist sich

als bröckelnde Krume

Moose und Flechten

glitschige Algen

darin sich dein suchender Griff verfängt

immer den Absturz vor Augen

den tödlichen Fall

 

Warum nur ist alle Angst dir so fremd?

Warum kennst du statt Angst

nur Sorge um die,

welche dir nah sind?

So nah wie ein Lidschlag und doch

so fern wie dunkle Gebirge

im Dunst eines sinkenden Tags

 

Es ist ein Wunder

dass du nicht schreist

du, ohne Angst

lächelst auch noch

verlegen hinein in alle Gestirne

So also ist das

 

Weil du dir denkst

solange dein Herz schlägt

pulsiert auch das All

ohne Rückhalt, ohne Gewähr

mitten in aller Haltlosigkeit

verlässlich und stet

 

Sieh in die Höhe: kein Licht

ruf in die Tiefe: kein Ton

füge die Bilder zusammen:

Die Addition aller Farben

ist strahlendes Weiß

 

Und mitten darin

lässt du los

Und du bist frei

du, ohne Angst

bist endlich erlöst

mitten in strahlendem Weiß

 

So also ist das.

  

 

 

Oktober, golden

 

Und alles hohe Gras

wiegt sich vertrocknet, dürr und fahl

und dennoch so, als lachte es

im letzten Sonnenwind.

 

Und Hände, unberührt

strecken sich aus

nach völlig unbekannten Dingen

vielleicht nach Brüdern

 

Schwestern, Freunden und Geliebten.

Oder dem Gelb, dem Feuerrot

von irgend einem fremden Strauch

von einem Baum, der welkt,

 

der seine Blätter fraglos, still

zu Boden sinken lässt.

 

Das Blau des Himmels

scheint absurd vor allen Fragen:

Wie Kitsch, vor dem man lächelnd steht.

Und dicht vor dem Azur

 

wird alles Laute still

für den Moment, da Vogelschwärme ziehen.

Und Sinn, Verstand – bedeutungslos.

Mit einem Mal

 

sind alle Fragen

nach Tun, nach Sein und Bleiben

hinein gebettet in das lichte Gelb

des einen Ahornbaums am Weg,

 

der seine Blätter fraglos, still

zu Boden sinken lässt.

 

 

An Hypnos

 

Vater der Träume, Hypnos, ich rede zu Dir.

Wo sind Deine Versprechen, all das Verlorene,

das ich vergeblich suche in allen Winkeln der Nacht? 

 

Ich will nicht reden von klammen, schweißnassen Kissen

auch nicht vom heillosen Rausch aller Art

noch von den dunklen Blumen und Blüten,

Blättern, die schlafen machen, fremde Essenzen,

die, einmal genossen, Dinge gebären, die niemand vergisst.

 

Du gabst mir Trost einst, dämmrigen Schlaf voller Geschichten,

Erholung, Genesung, aber vor allem Bilder der Nacht,

wenn in den Höhen die Sterne schweiften.

 

Abends, als alle Geister vergaßen, dass es mich gibt,

legte ich mich ins Bett mit dem geschundenen Herzen.

Und ich sah Dinge, die zu erzählen ich nicht vermag:

Zu tief, zu traurig, von Lust und Entsagung randvoll gefüllt

mit allem, was selten ein sterblicher Träumender sah.

 

Dann kam die Zeit, da Du es vorzogst, in Deinem Wahn

mich und mein Schicksal aus Deiner Obhut jäh zu entlassen.

Was nur ist mein Verbrechen, dass du so grausam bist?

 

Plünderer reißen mir alles nieder, das Haus und den Hof.

Die Hunde werden ans Hoftor genagelt, die Bücher verbrannt,

und ausgerissen mit Wurzeln liegen die Blumen im Garten,

während Du reglos sitzt in Deinem Heiligen Hain,

Zuschauer nur, kein Gott mehr, ein wirrer Gaffer und Narr.

 

Hypnos, Du träumst den Traum aller Träume.

Vergisst um des eigenen Traumes willen all Deine Gottheit.

Verlierst Dich im Dunkel, im alles verschlingenden Chaos.

 

Meine Nächte sind trostlos und lang, fern jeden Traumes

voller Verzweiflung, bitterer Angst und schlafloser Not,

geschlagen mit Blindheit dem Mond gegenüber und allen Gestirnen,

zitternd an Seele und Leib, mit dicken Decken noch frierend,

schaudernd unter dem ungeschminkten Antlitz der Nacht.

 

Hypnos: Erwache aus Deinem schädlichen Traum!

Gib mir das Leben zurück, das meinen Schlaf einst 

machte zu dem, was er war. Gib mir die Träume zurück!

 

 

 

 

copyright: Rainer Bendt