WANDLUNG - ein Requiem

 

 

 

Wandelt sich rasch auch die Welt

wie Wolkengestalten,

alles Vollendete fällt

heim zum Uralten.

 

Rainer Maria Rilke, Die Sonette an Orpheus, I, XIX

 

 

 

Meinem Bruder

Hans – Peter

1967 – 1992

gewidmet

 

 

 

 

Leben

 

 

 

 

I.

 

Liebeslied

 

Daß sich die Dinge

die dich überall umgeben

von deiner Nähe nicht beirren lassen...

 

Ich wünschte, daß es mir gelänge

mich ganz in die Dinge hineinzugeben.

Kannst du

willst du mich fassen ?

 

Ich möchte als Duft

mich über dir verbreiten.

Ich möchte ein Buch sein

durch dessen Seiten

behutsam deine Finger gleiten.

 

Ich möchte als Wein

durch deine Kehle rinnen,

ich möchte ganz innen

tief bei dir sein.

 

Doch ist dein Glück vielleicht

woanders als in solchen Dingen.

Von meinen Wünschen wirst du nicht erreicht,

doch meine Sehnsucht kann ich nicht bezwingen.

 

 

 

 

II.

 

Veränderung

 

 

Und alles um dich

ist dir nah wie nie zuvor.

 

Neue Gesänge erreichen

plötzlich dein Ohr,

finden den Weg

in dich hinein.

 

Bist du allein ?

 

Siehst du,

wie alle Dinge sich ändern,

wie Falten in alten Gewändern ?

 

Hörst du

mitten in deinem Innern

jenen uralten Ton,

daran deine Seele reift ?

 

Fühlst du

den Hauch, der dich streift ?

Zart nur und leicht;

(Sommerluft, Flimmern,

Duft wie von Mohn...)

 

Siehst du die Welt

mit neuem Blick

über dir schimmern ?

 

Und alles um dich

ist dir nah wie nie zuvor.

 

 

 

III.

 

Gesang der Wandlung (canto I)

 

Ein Wehen geht geheimnisvoll

durch die Natur

Und hinterläßt

in allem eine Spur.

 

Ein Hauch von Weh

durchzieht die Gegenwart:

Wo ist der helle Schnee,

der gestern lag ?

 

Und was wird morgen liegen ?

 

Und siehst du nicht

die Wolken fliegen ?

 

Denn alles, alles

gehorcht dem einen Gesetz:

Nirgends ist Dauer und Bleiben.

 

Alles was ist,

wird unter Tränen geschliffen,

alles was ist,

ist in Verwandlung begriffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IV.

 

ecce homo

 

Arme Gestalt

geschoren

Wachsen die Haare

noch nach ?

Bist schon so kalt...

All deine Jahre

Verloren.

Was kommt danach ?

 

Alles Fleisch offen

roh noch die Wunden.

Wo sind die Stunden

die Zeit

ist offen.

 

Trockener Schaum

auf gesprungenem Mund.

Die wenigen Jahre

lebtest du kaum.

Blut in den Ohren.

Die Knochen so wund.

Wo ist dein Traum ?

Alles verloren.

Zerstört alles Hoffen.

 

 

 

 

 

 

Dein Hemd ist so klamm

von kaltem Schweiß.

War dir so heiß

von unseren Klagen ?

Wer reicht dir den Schwamm ?

 

Zerschlagen

das Haus deiner Seele.

Ob ich dir fehle ?

Bist du verloren ?

Neu geboren ?

Ein Lamm

Nackt

Einsam

Geschoren.

 

Lamm Gottes

oder nur Opfer

göttlichen Spottes ?

 

Hört Erdie Klagen ?

Wird er dich aufbau’n

binnen drei Tagen ?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Tod

 

I.

 

Angst

 

 

Unerwartet trüber Tage

graues Angstgehänge

lastet schwer auf uns als Klage.

Es ist, als ob das Dunkel sänge.

Die Einsamkeit vollendet sich,

und Traurigkeit nimmt ihren Lauf.

Etwas seufzt: Ich.

Woanders: Du.

Und einer hört zu leben auf,

schließt müd die Augen zu.

 

 

II.

 

Klage

 

 

Siehe: Ich schwele.

Verbrannt ist mein Geist

bis zum Grund.

Und meine Seele

verlassen und leer.

 

Doch wenn du weißt,

daß ich dir fehle:

öffne den Mund –

Du kannst es nicht mehr.

 

 

 

III.

 

Gesang der Wandlung (canto II)

 

Ein Wehen geht geheimnisvoll

durch die Natur

Und hinterläßt

in allem eine Spur.

 

Ein Hauch von Weh

durchzieht die Gegenwart:

Wo ist der helle Schnee,

der gestern lag ?

 

Und was wird morgen liegen ?

 

Und siehst du nicht

die Wolken fliegen ?

 

Denn alles, alles

gehorcht dem einen Gesetz:

Nirgends ist Dauer und Bleiben.

 

Alles was ist,

wird unter Tränen geschliffen,

alles was ist,

ist in Verwandlung begriffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IV.

 

Totengebet

 

 

Gewaltiger,

der du in allem Sterben bist:

wie schwer uns nun

um unser Leben ist,

bleibt ungenannt.

 

Gewaltiger,

der du uns nicht vergisst:

vor dir zerrinnen wir

wie Sand.

 

Gewaltiger,

der du das All durchmisst:

halt unter diese Seele

nun deine Hand.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

V.

 

Pietà

 

Ihre Hände sind um seinen Kopf gelegt,

wie damals, als er Kind war.

Manchmal zittern ihre dürren Finger aufgeregt

wie damals -

 

Und diese Last,

die zu empfinden sich

ihr Schoß versagt

wie damals –

 

Und all das Blut, das ihr die Schenkel abwärts rinnt

Wie damals –

 

Und diese Nähe,

die ihren Leib unendlich zart und fest

mit seinem eint

wie damals –

 

Und dieser Schmerz,

der ihr das Innerste in Stücke reißt –

wie niemals.

 

Ihre Hände sind um seinen Kopf gelegt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

VI.

 

Elegie

(Aufgabe)

 

 

Meine schweren Gedanken

tasten nach jener Nacht

tasten im Dunkel

nach dir.

 

Ich will sie unter meinen nassen

Lidern

(schwer genug)

noch einmal zusammenfassen

mit unseren Liedern

 

Und dann im Wind

oder in den Gefiedern

trauriger Vögel

im Flug

verwehen lassen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leben

 

 

I.

 

Gesang der Wandlung (Canto III)

 

Ein Wehen geht geheimnisvoll

durch die Natur

und hinterläßt

in allem eine Spur.

 

Was gestern lag

im Dunkel und in Nacht,

steht heute auf,

ist aufgewacht:

Denn es ist heller Tag.

 

Und siehst du nicht

die Wolken fliegen ?

 

Und dein Gesicht:

In deinen tränennassen Zügen

wird wieder Licht.

 

Denn alles, alles

gehorcht dem einen Gesetz:

Nirgends ist Dauer und Bleiben.

 

Alles was ist,

wird unter Tränen geschliffen,

alles was ist,

ist in Verwandlung begriffen.

 

 

 

 

 

 

 

 

II.

 

Lebens – Lied

(Kreis)

 

 

Was aus einer Quelle fließt,

 

mündet einst im Meer:

Alle Flüsse werden leer.

Auch mein kurzes Leben flieht;

 

Leuchtet vielleicht im Zenit

auf wie ein Komet.

 

Doch ich sehe: schnell verweht

meines Daseins schwache Spur.

Wo ist Gott ? Er wartet nur

 

Bis der Kreis sich schließt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

III.

 

Trost

(gestern und immer)

 

 

Du schweigst und hörst in dich hinein.

Da dehnt sich’s unter deinem Schweigen

gewaltig, und ein starker Bogen

 

trägt und umfängt dein ganzes Sein.

Und große klare Bilder steigen

auf in deine leeren Stellen.

 

All deine vielen fernen Stunden,

sie sind nicht von dir fortgezogen:

Steigst du hinab zu deinen Quellen,

wirst du sie grunden.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

IV.

 

memento mori

 

 

Richte den Blick in die andere Welt

Einmal

fällt alles aus deinen Händen.

 

Einmal

(vielleicht mitten im Kuss)

wirst du dir eingestehn

dass alles enden muss

und vergehn.

 

Richte den Blick in die andere Welt

Einmal

fällt alles aus allen Händen.

 

Richte den Blick in die andere Welt

wo keine Nacht ist

und kein Vorhang fällt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

V.

 

Schlußstück

 

 

Vieles blieb ungesagt.

Ich suche dich in meinen Rätselträumen.

 

An schwarzen, winterkahlen Krähenbäumen

bleibe ich lauschend stehn.

 

Doch vielleicht siehst du, wie mein Fragen

hinein in deine fernen Räume ragt.

 

Ich will zu leben nicht versäumen.

Will wach sein, wenn es wieder tagt.

 

Will meine fremden Wege weitergehn

und einmal auch hinein in deine Räume.

 

Wenn wir uns wiedersehn.

 

 

 

 

 

Oktober 1992 – Februar 1993

© Rainer Bendt, 1993