Wassbecks Maschine

 

und dabei wusste man so wenig über Erich Wassbeck, und die Hoffnungen, nach seinem Tod (der dann doch früher eintrat als erwartet) vielleicht Näheres über das Privatleben dieses denkwürdigen Menschen zu erfahren, wurden bei der Durchsuchung seiner Wohnung bitter enttäuscht. Das Durchforsten seiner nachgelassenen Papiere förderte nichts Neues zutage, die Suche nach doppelten Böden, geheimen Nischen, Spektakulärem, Unbekanntem, blieb ergebnislos.

Manche hatten sich pikante Funde intimsten Inhaltes erhofft, weil immer wieder Gerüchte über ein bizarres Geschlechtsleben Wassbecks die Runde machten – andere wiederum forschten nach Wassbecks neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen. Aber nichts wirklich Neues wurde, wie gesagt, ans Licht gebracht, und nachdem sich allmählich diese Erkenntnis unumstößlich auch im Bewusstsein der größten Phantasten erhärtet hatte, begann es erst wenigen, dann aber immer mehr seiner ehemaligen Freunde und Feinde (von letzteren hatte Wassbeck genug) zu dämmern: Wassbeck hat uns hinters Licht geführt.

 

Und dann, Stück für Stück, wuchs der Mut. Zunächst unternahmen Einige den Versuch, durch gezielte Veröffentlichungen von Gerüchten den Ruf des Verstorbenen im akademischen Milieu zu schmälern. Dann wurden Stimmen laut, die besagten, die Frist der Trauer sei nun verstrichen, Pietät hin oder her, man solle sich nun endlich an die Maschine machen.

 

Wassbecks Maschine wurde unter strengstem Verschluss im Keller des M…-P…-Instituts zu N. aufbewahrt, wohin man sie nach dem Ableben des Forschers durch hochbezahlte Waghälse hatte schaffen lassen, Hasardeure, die anscheinend nicht viel auf ihr Leben gaben. Die Maschine müsse auseinander genommen und gründlichst untersucht werden, forderte eines Tages jemand laut. Man kam nicht mehr dazu, diese Idee in die Tat umzusetzen – fürs Erste jedenfalls.

 

Der Hausmeister des Instituts wurde dem Vernehmen nach am achten April des Jahres Soundsoviel gegen vier Uhr dreißig von einem ohrenbetäubenden Knall, der aus der Tiefe des Kellers zu kommen schien, aus dem Schlaf gerissen. Nicht einmal Zeit hätte er gehabt, sich ordentlich anzuziehen, im Pyjama noch sei er hinunter, hätte zunächst noch an einen Überfall gedacht, diesen Gedanken aber bei der Wahrnehmung des außerordentlichen Ammoniakgestankes sofort fallen lassen, die Taschenlampe, obwohl mit neuen Batterien versehen, habe auf einmal nicht mehr funktioniert, das Licht im Flur schon mal gar nicht, wie dem auch sei, gesehen hätte er trotzdem, sogar recht deutlich, dass der ganze Keller von diesem unwirklichen, bläulichen Licht durchflutet gewesen sei, das hätte ihm aber nichts ausgemacht, er sei weitergegangen bis zu dem Raum, in dem die Maschine aufbewahrt wurde – ohnmächtig sei er erst geworden, als plötzlich der Wassbeck leibhaftig vor ihm gestanden sei, allerdings, das hätte er noch deutlich wahrgenommen, seitenverkehrt, denn die Warze hätte der Wassbeck diesmal auf der rechten Wange gehabt und nicht, wie zu Lebzeiten, auf der linken, das sähe er noch deutlich vor sich, eine Täuschung sei hundertprozentig ausgeschlossen, da könne man ihm sagen was man wolle.

 

Es wäre naheliegend gewesen, so könnte man meinen, dem Hausmeister umgehend die entsprechende Fürsorge zukommen zu lassen. Man unterließ das. Stattdessen kam jemand auf die glänzende Idee, die Sache wissenschaftlich zu überprüfen, Nagel mit Köpfen zu machen, aufs Ganze zu gehen und Wassbecks Grab zu öffnen. Selbstredend gab es zunächst Widerstand; auch die Behörden verweigerten eine Zeit lang die Mitarbeit; als jedoch der Druck der interessierten Öffentlichkeit immer größer wurde und auch die Medien ihre Pflicht der Volksaufklärung sattsam bekundet hatten, als verschiedene Personen schließlich vorgaben, Erich Wassbeck in der Innenstadt gesehen zu haben ( jemand hatte ihn angeblich beim Diebstahl von Kondomen im Kaufhaus beobachtet), als dann auch noch der Hausmeister des Instituts sich anschickte, zum gern gesehenen Gast in diversen Talkhows zu werden, da war die Zeit reif.

 

So wurde schließlich und tatsächlich unter  Ausschluss der Öffentlichkeit (nur wenige ausgewählte Vertreter der Politik und der Medien waren Augenzeugen des Vorgangs) das Grab des Forschers Erich Wassbeck geöffnet, und dieses Grab, genauer: Wassbecks Sarg, war leer.

 

Betrug, Verbrechen, arglistige Täuschung konnten ganz zweifelsfrei und mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden einerseits durch Sachverständige, welche die Unberührtheit der gesamten Grabstätte konstatierten, andererseits durch das Bestattungsunternehmen, das Zeugen hatte und eidesstattlich erklärte, das Begräbnis seinerzeit ordnungsgemäß durchgeführt zu haben.

 

Und so schien es plötzlich, dass die Menschheit es zum zweiten mal im Verlauf ihrer christlich-abendländischen Geschichte  mit einem Phänomen zu tun bekam, das allgemein als „Auferstehung von den Toten“ bezeichnet wird, wenngleich man bislang weit davon entfernt gewesen war, sich Genaueres unter dieser Umschreibung vorstellen zu können. Wassbeck, so nahm man an, hatte diese Schwierigkeit offenbar nicht gehabt, im Gegenteil: Er schien sie mit Hilfe seiner Maschine in die Tat umgesetzt zu haben, wissenschaftlich angewandt zu haben, und zwar an sich selbst.

 

Umgehend stürzten sich die Ersten, sämtliche Bedenken in den Wind schlagend, mit Feuereifer auf die Maschine. Man müsse nur die Angst ablegen, den Respekt vor der Technik, dann ginge alles wie von selbst. Sie kamen dabei ums Leben. Andere sagten, das Interesse der Wissenschaft und die Wohlfahrt der Menschheit gebiete eine Fortführung der Arbeiten an der Maschine, und diese Leute hatten zumindest insofern Erfolg, als das sie am Leben blieben.

 

Nach langer, aufopferungsvoller Arbeit –  inzwischen berichteten Rundfunk und Fernsehen regelmäßig über den Stand der Dinge – hatte man die Maschine ohne weitere Personenschäden soweit zerlegt, dass man an das Kernteil des Apparates gelangt war. Gleichzeitig war es inzwischen klar geworden, dass man keinesfalls über Kenntnisse verfügte, die nötig gewesen wären, um die Maschine auch wieder zusammen zu setzen, und das wurde insgesamt bedauert. Derweil wurde das Kerngehäuse, ein schwarzes, metallenes Ding in Form eines Oktaeders, allgemein bestaunt. An seinen Kanten befanden sich kleine, stutzenartige Wülste mit je zwei Löchern, aus denen in regelmäßigen Abständen von drei Tagen aus dem Inneren der Maschine in geringer Menge eine zähe, bläuliche, latexartige Masse abgesondert wurde. Dieser Masse haftete ein seltsamer, undefinierbarer Geruch an, ein Geruch, der von den Einen als so unangenehm beschrieben wurde wie von den Anderen als angenehm, ja duftend. Das Kerngehäuse, das die phantastische Eigenschaft besaß, jene Masse abzusondern, konnte jedoch selbst unter Aufbietung sämtlicher technischer Möglichkeiten nicht weiter auseinander genommen werden.

 

So wurde es nach einer Zeit der vergeblichen Versuche, es zu öffnen, unter Verschluss gebracht, die Flüssigkeit, die aus seinem unerforschten Inneren kam, in Behälter gefüllt und für gutes Geld an Interessenten jedweder Art verkauft. Etwa drei Jahre nach dem Ereignis, dass als „Wassbergs Auferstehung“ nicht nur in die Annalen jenes Instituts eingegangen ist, stellte das Kerngehäuse der Maschine plötzlich und ohne weiteres seine Tätigkeit ein und der Strom latexartiger Masse versiegte.

 

Erwähnenswert ist noch, dass man zu genau diesem Zeitpunkt des Versiegens unter wenig rühmlichen Umständen, die allerdings hier nichts zur Sache tun, die noch warme Leiche des Erich Wassbeck fand, der tatsächlich die Warze auf der rechten statt auf der linken Wange hatte und noch dazu sämtliche Taschen seiner Kleidung voller Kondome. Vier Tage später wurde Wassbeck ein zweites Mal ordnungsgemäß beigesetzt, diesmal allerdings endgültig. Seine Maschine hat ihre absonderliche Tätigkeit bis zum heutigen Tag nicht wieder aufgenommen, und da dies auch nicht mehr erwartet wird, dürfte die ganze Geschichte allmählich mit der Zeit in Vergessenheit geraten, was vielleicht nicht das Schlechteste wäre.

 

© Rainer Bendt